Land und Leute | 13. März 2014

Wenn die Krankheit alles in Frage stellt

Von Gisela Ehret
Kathrin Feldhaus und Margarethe Mehring-Fuchs haben ein außergewöhnliches Buch veröffentlicht: Über ein Jahr lang saßen sie an den Krankenbetten des Universitätsklinikums für Kinder- und Jugendmedizin in Tübingen und sprachen mit schwer kranken jungen Menschen.
„Wann hört die Scheiße endlich auf”, fragt Karina. Am unteren Buchrand ein Zettel: „Karina, 14 Jahre, verstorben.” Allen Protagonisten in diesem Buch geht es ähnlich wie Karina: Sie leiden an Leukämie, Darmkrebs oder Morbus Chron, müssen Chemotherapie oder Knochenmarktransplantationen durchstehen. Der Tod ist allgegenwärtig und wirft Fragen auf: Was passiert mit mir, wenn ich sterbe? Wie sieht es im Himmel aus? Werde ich wiedergeboren? Ist Gott cool? Manche der Mädchen und Jungen hadern mit Gott oder können nicht mehr an ihn glauben. Andere finden ihre Kraft gerade im Glauben. Die jungen Menschen erstellen  Listen, was sie nach der Krankheit alles tun wollen: Mit den Katzen schmusen, Lotto spielen, ins Musical gehen. Sie vermissen die alltäglichen Dinge. Sie malen Bilder von ihrer Familie, von Reisezielen, vom Motorrad. Manchmal fühlen sie sich abgeschottet von der Welt und eingesperrt. An anderen Tagen können sie ihr Leiden mit Humor sehen. Der Leser erlebt das Auf und Ab, das Hin und Her von Diagnosen und Behandlungen, von Hoffnung und Resignation hautnah mit. 
Schonungslos
Feldhaus, Mehring-Fuchs (Hg.): Ich hab jetzt die gleiche Frisur wie Opa. Wie kranke Kinder und Jugendliche das Leben sehen. Patmos Verlag 2014, ISBN 978-3-8436-0496-3; 14,99 Euro.
Die Sozialpädagogin Margarethe Mehring-Fuchs beschäftigte sich bereits in einem Projekt an der Jungen Oper in Stuttgart mit krebskranken Kindern. Nun wollte sie etwas Nachhaltigeres zu diesem Thema schaffen.  Das Buch ist ein Projekt der Veronika-Stiftung und des Jugendfördervereins „element3”, für den Mehring-Fuchs arbeitet. Mit ins Boot nahm sie Kathrin Feldhaus, die für das Theater Freiburg als Regisseurin, Dramaturgin und Produktionsleiterin arbeitet. „Die Endlichkeit des Lebens betrifft uns alle, wir wollen uns nur nicht damit beschäftigen”, sagt Mehring-Fuchs. „Die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir gesprochen haben, sind da ehrlicher. Sie sehen dem Ganzen sehr klar ins Auge.” 
Den eigenen Umgang mit schweren Krankheiten überdenkt man nach der Lektüre dieses tabulosen Buches. Die Kinder sprechen schonungslos von ihrem Leiden. Sie sind wütend, traurig, verzweifelt. Aber vor allem sind sie mutig und tapfer. Sie versuchen, nicht zu viel über ihre Krankheit zu grübeln, sondern jeden Moment in diesem Leben zu genießen, das sie auf einmal zu schätzen lernen. Mit viel Fingerspitzengefühl  haben Feldhaus und Mehring-Fuchs die Aussagen der jungen, schwer kranken Protagonisten in einem Buch zusammengefasst, das unter die Haut geht.
Ein ganzes Jahr lang besuchten die Herausgeberinnen immer wieder die Krankenstationen, die KMT-Station und das Elternhaus der Uniklinik Tübingen. „Das war lebendig, humorvoll, traurig und immer knallhart im Hier und Jetzt”, erzählt Feldhaus. Der Soziale Dienst der Klinik vermittelte ihnen Kontakte zu den Patienten und ihren Angehörigen. Manche wurden lange begleitet, andere nur ein- oder zweimal besucht. Einige Patienten verstarben auch während der Entstehung des Buches. „Wir verbrachten oft Stunden an den Betten”, so Mehring-Fuchs. Die Eltern wussten ihre Kinder gut betreut und nutzten irgendwann diese Besuchszeiten auch, um ein wenig Zeit für sich selbst zu haben.
„Wir haben oft festgestellt, dass es für die Kinder leichter war, mit uns unbeteiligten Außenstehenden über ihren Umgang mit der Krankheit, über Ängste und Tod zu sprechen als mit der Familie”, berichtet Feldhaus. Denn auf die ohnehin sorgengeplagten Eltern nehmen die Patienten oft Rücksicht.
Sinn des Lebens
„Die Emotionen liegen in dieser Situation sehr eng beieinander”, berichtet Mehring-Fuchs: „Trauer, Glück, Humor, manchmal auch Verwirrung durch die Medikamente. Alles ist sehr intensiv. Aber als Elend haben wir es nicht erlebt.” Im Gegenteil empfinden die Herausgeberinnen das Erlebte als starke Bereicherung, als Anregung, sich mit dem Sinn des Lebens zu beschäftigen. „Es lohnt, sich mit all den Höhen und Tiefen des Lebens und auch mit der Endlichkeit bewusst auseinanderzusetzen”, resümiert Feldhaus.Am meisten hat die beiden beeindruckt, mit welcher Reife und Radikalität sich die  Protagonisten mit ihrer existenziellen Situation auseinandersetzen. Feldhaus: „Für uns sind sie große Lebensmeister, von denen man als Erwachsener sehr viel lernen kann.”

  
Auch im Theater aufgeführt
Das Buch enthält auch ein Hörspiel, in dem die Aussagen der Protagonisten musikalisch umrahmt werden. Und auch das Junge Theater Freiburg setzt sich nun mit der schwierigen Thematik, in jungen Jahren schon todkrank zu sein, auseinander. Eine Gruppe von neun Kindern und Jugendlichen hat unter anderem unter der Leitung der beiden Buchautorinnen ein Theaterstück auf die Beine gestellt, das den Texten der Kranken Gehör verschafft. Die Gruppe trat auch im Klinikum in Tübingen auf und traf einige der Protagonisten des Buches. Die „Szenische Lesung” wird am Sa, 15. März, Do, 20. März, Sa, 29. März und So, 30. März jeweils um 19 Uhr im Werkraum des Theaters Freiburg aufgeführt. ge