Land und Leute | 16. Juli 2020

Kultur und Natur am Jestetter Zipfel entdecken

Von Thomas Güntert
Urlaub bei uns: Der Jestetter Zipfel ganz im Süden des Landes wird von 55 Kilometern Grenze zur Schweiz „eingezäunt”. Dort gibt es kombiniert mit einer Fährfahrt zwei wunderschöne grenzüberschreitende Wanderungen zum Naturzentrum Thurauen beziehungsweise zur Klosterinsel Rheinau.
Seit 115 Jahren verkehrt eine Drahtseilfähre zwischen Lottstetten und Ellikon im Zürcher Weinland.
Der Ausgangspunkt für die beiden 14 Kilometer langen Wanderungen ist die Lottstetter Liegewiese Giesse, die mit dem Auto über die Nackermühle und zu Fuß über den Ortsteil Nack erreichbar ist. Beide Wanderungen werden jeweils mit einer Überfahrt der Drahtseilfähre „Rüedifaar” begonnen oder beendet.
Übrigens: Die geografische Lage ist am Nacker Rheinufer ziemlich verzwickt. Oberhalb der Rheinfähre steht der erste von 1740 Schaffhauser Grenzsteinen, der die im Kanton Zürich eingebetteten Schaffhauser Exklaven Rüdlingen und Buchberg vom Landkreis Waldshut trennt. Zudem ist der vorbeifließende Rhein die natürliche Grenze zum Kanton Zürich.
Vom Grenzstein 1 aus ist bereits die Fähre am gegenüberliegenden Elliker Rheinufer zu sehen. Um Fährmann oder Fährfrau zu aktivieren, heißt es beim deutschen Wartehäuschen die große Messingglocke zu läuten und gleichzeitig den roten Knopf zu drücken, wodurch die Fährleute über Funk das Läuten der Glocke hören. Seit 115 Jahren verkehrt eine Drahtseilfähre zwischen dem deutschen Rheinufer und dem Zürcher Weinland. Seit rund 20 Jahren schippern der 78-jährige Fährmann Hans Zürcher und seine Frau Rös vom 1. April bis zum 15. Oktober jährlich bis zu 10000 Fahrgäste über den Rhein. Vom ehemaligen Fischerdörfchen Ellikon aus geht es rheinaufwärts auf schmalen Pfaden den gelben Wanderrauten nach. Für Kinderwagen ist der Weg nichts. Zu hoch sind hier die Baumwurzeln. Bei einer Schiffsanlegestelle endet der Weg, und eine lange Naturtreppe führt hinauf nach Rheinau, dem ältesten Marienwallfahrtsort der Schweiz. Von hoch oben thront die reformierte Bergkirche St. Nikolaus, und aus der Rheinsenke ragen die beiden Türme der ehemaligen Klosterkirche hervor. Der südliche Turm ist der Mutter Gottes geweiht, und diese Wallfahrtskirche zählt zu den schönsten barocken Kirchen der Schweiz. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde sie vom Bregenzerwälder Baumeister Franz Beer im heutigen Erscheinungsbild gebaut. Die prächtigen Seitenaltäre sind wie Nebenkulissen auf den zentralen Hochaltar ausgerichtet. Sehr beeindruckend sind auch das aus einheimischem Nussbaumholz geschnitzte Chorgestühl, das schmiedeeiserne Chorgitter und die prachtvollen Stuckaturen und Deckenfresken. Seit der Auflösung des Klosters im Jahr 1862 dient die Kirche der katholischen Pfarrei Liebfrauen als Gotteshaus, und es finden auch regelmäßig Konzerte statt.
Die Wallfahrtskirche in Rheinau zählt zu den schönsten Barockkirchen der Schweiz.
Monika von Känel ist Sigristin, wie in der Schweiz die Mesnerin genannt wird. Im liturgischen Jahreskreis kleidet sie die Marienfigur mit 18 verschiedenen Gewändern in den entsprechenden liturgischen Farben ein. Auch bietet sie Kirchenführungen an, anschließend bietet sich eine Pause im neu renovierten Klostergarten an, der wohl eine der schönsten Gartenwirtschaften der Region ist.
„Nach der Aufhebung des Klosters war hier die Psychiatrie drin, da durfte keiner rein”, erzählt ein Einheimischer. Weiter geht es durch den Ort wieder in Richtung Landesgrenze. Auf der Vorbrücke grüßt der eiserne Brückenpatron Nepomuk, bevor es über den Rhein geht. Die überdachte hölzerne Pfahljochbrücke wird gerne auch als das Tor zur Schweiz bezeichnet. Laut Jestetter Chronik wollten die Deutschen im April 1945 die Brücke sprengen. Im letzten Augenblick überlegten es sich die verantwortlichen Pioniere aber anders und flüchteten über die Brücke lieber in die Schweiz.
Staunen ist über die grenzüberschreitende Vorfahrtsregel auf der einspurigen Überfahrt angesagt. Hier gilt: „Der Schnellere ist der Geschwindere.”
Auf dem deutschen Parkplatz legen sich Taucher ins Zeug. Sie  erzählen, dass sich der Tauchplatz bei der alten Zollbrücke besonders für Nachttauchgänge anbietet. Jetzt heißt es dem Wanderweg in den schattigen Wald zu folgen. Am Wegesrand lässt eine Entdeckung staunen: ein ungewöhnlicher Baum, passend wäre der Name „Vielbaum”. Direkt am Wasser verzweigen und verschlingen sich dicht gedrängt Baumwurzeln in zwölf  Baumstämme und gewähren bis zur Krone einen besonderen Einblick.
Schmale Pfade und zahlreiche Naturtreppen führen dann in den kleinen Lottstetter Ortsteil Balm, wo es früher eine mittelalterliche Burg gab. Leider gibt es dort keine Einkehrmöglichkeit, nur einen Dorfbrunnen. Auf dem letzten, sechs Kilometer langen Teilstück führt der Weg vorbei an den drei Naturbadeplätzen Jestetten, Balm und Giesse, die mit zahlreichen Grillstellen zum Verweilen einladen.

Natur pur im Westen
Schöner Ausblick am „Alten Rhein” bei Rüdlingen.
Die zweite Route ist ebenfalls gut ausgeschildert und führt von der deutschen Fähranlegestelle auf einem Waldweg rheinabwärts, bis es über eine lange Treppe hinab zum „Alten Rhein” geht. Vor rund 120 Jahren wurde der alte Rheinarm bei einer Rheinkorrektur vom Hauptstrom abgetrennt und zählt heute zu einem der schönsten Abschnitte des gesamten Rheinverlaufs. In den vergangenen Jahren hat ein Schweizer Energiekonzern zwei neue Weiher und einen 300 Meter langen Nebenarm angelegt. Dabei wurden 12000 Quadratmeter Wald abgeholzt, 15000 Kubikmeter Kies ausgehoben und drei neue Betonbrücken erstellt. In den Altläufen haben sich äußerst wertvolle Lebensräume für Fauna und Flora entwickelt. Neben dem Biber haben sich auch rund 40 verschiedene Brutvögel angesiedelt, darunter seltene Arten wie Pirol, Kleinspecht und Eisvogel. Die Route führt vorbei am Rüdlinger Naturbadestrand über die Rheinbrücke zum Naturzentrum Thurauen. In einer interaktiven Ausstellung werden faszinierende Einblicke in die Tier- und Pflanzenwelt der Auenlandschaft gezeigt. Zudem gibt es auf dem 340 Meter langen Erlebnisparcours im kleinen Restauenwald allerhand zu entdecken. Der Wanderweg verläuft entlang des Rheins in die eigentlichen Thurauen, die mit knapp 400 Hektar das größte Auengebiet des Schweizer Mittellandes sind. Der Kanton Zürich hat das Gebiet in den vergangenen Jahren ökologisch aufgewertet, wovon Fauna und Flora profitieren.
Der „Vielbaum” nahe Grenzübergang Rheinau scheint zwölf Bäume in einem zu vereinen.
Bei der Wanderung empfiehlt es sich, einen Abstecher zum ausgeschilderten Thurspitz zu machen, wo die Thur in den Rhein fließt. Zudem führt der Weg noch an einer Beobachtungshütte vorbei, in der durch Klappluken die Tierwelt der Thurauen aus allernächster Nähe beobachtet werden kann. Das letzte Stück der Tour verläuft auf dem Hochwasserschutzdamm bis nach Ellikon, wo Fährmann Hans mit einem „Wänner wieder übere?” grüßt.