Politik | 07. April 2015

Tierhaltung: Wissenschaftler fordern Umbau

Von AgE
Einen weitergehenden Umbau der Tierhaltung in Deutschland hält der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium für erforderlich.
Die Wissenschaftler wollen allen Nutztieren Zugang zu verschiedenen Klimazonen verschaffen. Wo machbar, soll dies über Außenklima ermöglicht werden.
In ihrem mehr als 400 Seiten starken Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung”, das der Beiratsvorsitzende Prof. Harald  Grethe  vergangene Woche dem Parlamentarischen Staatssekretär vom Bundeslandwirtschaftsministerium, Peter  Bleser, übergeben hat, bezeichnen die Wissenschaftler die derzeitigen Haltungsbedingungen als nicht zukunftsfähig. Sie begründen dies mit fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz und einem hohen Risiko für Tierleid in gängigen Haltungssystemen. Die Mehrkosten für notwendige Anpassungen, die teils über einen längeren Zeitraum notwendig seien, veranschlagt der Beirat auf 13 bis 23 % der jährlichen Produktionskosten. Dies entspricht einer Summe von 3 bis 5 Mrd. Euro. Aufgebracht werden sollen diese Mittel von Staat, Konsumenten und Wirtschaft.
Der Beirat empfiehlt unter anderem ein Bundesprogramm Tierwohl und ein mehrstufiges staatliches Tierschutzlabel. Gefordert werden eindeutigere und zusätzliche gesetzliche Mindeststandards sowie Prämien und Kompensationszahlungen im Rahmen der Ersten und Zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Gelobt wird die Brancheninitiative Tierwohl, wenngleich ihre finanzielle Ausstattung viel zu gering sei.
Entstanden ist das Gutachten in dreijähriger Arbeit. Federführend waren der Göttinger Agrarökonom Prof. Achim  Spiller  sowie der Agrarwissenschaftler und Veterinärmediziner Prof. Matthias  Gauly  von der Universität Bozen.
Erhebliche Schwächen
In der Wirtschaft stieß das Beiratsgutachten auf Kritik. Der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Bernhard  Krüsken, sprach von erheblichen Schwächen in der Analyse der derzeitigen Situation, den methodischen Grundlagen und den Bewertungen. In einer Diskussion mit den Autoren bezeichnete Krüsken die vorgebrachte Kritik an den gegenwärtigen Haltungsbedingungen und die Forderung nach einer 180-Grad-Wende in der Tierhaltung als unbegründet und nicht gerechtfertigt. Die Hauptgeschäftsführerin vom Verband der Fleischwirtschaft (VdF), Dr. Heike  Harstick, hielt dem Beirat vor, er habe keine neutrale wissenschaftliche Analyse vorgelegt, sondern sich von Werturteilen leiten lassen. Harstick vermisst insbesondere ein geeignetes Referenzsystem, das den Vorwurf der erheblichen Defizite in der hiesigen Nutztierhaltung rechtfertige.
Demgegenüber begrüßte der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, Thomas  Schröder, die Aussagen des Beirats als Bestätigung langjähriger Tierschutzforderungen und Aufruf zum politischen Handeln. Andere Verbände aus dem Agrar- und Umweltbereich reagierten ebenfalls positiv. Bei SPD, Linken und Grünen fand das Gutachten Zustimmung. Auch die Union reagierte positiv, bemängelte aber eine unzureichende Würdigung der bereits ergriffenen Maßnahmen. Laut  Bleser haben die Wissenschaftler eine Diskussionsgrundlage für die Entwicklung der Tierhaltung in den nächsten zehn bis 15 Jahren vorgelegt.
Solider Leitfaden
„Die gegenwärtigen Tierschutzprobleme gefährden die Akzeptanz der Tierhaltung in Deutschland”, sagte Beiratsvorsitzender Grethe bei der Vorstellung des Gutachtens. Dem Beirat gehe es nicht um einseitige Schuldzuweisungen. Stattdessen wolle man anhand eines „soliden Leitfadens” aufzeigen, wie die aus Beiratssicht unerlässliche Neuausrichtung der Tierhaltung umgesetzt werden könne. Entscheidende Voraussetzung dafür sei der politische Wille, einen Kurswechsel einzuleiten. Die Landwirte benötigten eindeutige und verlässliche politische Signale, was in den nächsten Jahren auf sie zukomme, um ihre Investitionsentscheidungen danach auszurichten. Keinesfalls dürften sie mit den zu erwartenden Kosten allein gelassen werden, warnte der Hohenheimer Agrarökonom. Andernfalls würden Teile der hiesigen Produktion in Länder mit geringen Tierschutzstandards abwandern.
Grethe sieht in dem Gutachten einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion. Als Beispiel nannte er die aus seiner Sicht unzulässige Verengung der öffentlichen Tierwohldiskussion auf die Betriebsgröße. Es sei unstreitig, dass die Betriebsgröße gegenüber anderen Einflussfaktoren wie der Managementqualität nur einen geringen Einfluss auf das Tierwohl habe. Allerdings hält der Beirat regionale Bestandsobergrenzen für unausweichlich, sollte es nicht gelingen, über eine Verschärfung des Düngerechts die negativen Umwelteffekte in viehdichten Gebieten in den Griff zu bekommen.
Neun Leitlinien
Der Beirat schlägt in seinem Gutachten neun Leitlinien für die Entwicklung einer „Tierhaltung 2030” vor. Laut  Spiller beruhten diese auf einer Kombination aus fachwissenschaftlichen Vorschlägen und Werturteilen der Bevölkerung, wie sie sich aus  Studien zu diesem Bereich ergäben. So will der Beirat allen Nutztieren Zugang zu verschiedenen Klimazonen verschaffen. Wo möglich, soll dies über Außenklima ermöglicht werden. Den Tieren sollen unterschiedliche Funktionsbereiche mit verschiedenen Bodenbelägen angeboten werden. Zur artgemäßen Beschäftigung, Nahrungsaufnahme und Körperpflege sollen ihnen geeignete Einrichtungen, Stoffe und Reize zur Verfügung stehen. Ferner schreiben die Leitlinien ausreichend Platz sowie den Verzicht auf Amputationen vor.
Die Betriebe sollen zu Eigenkontrollen anhand tierbezogener Tierwohlindikatoren verpflichtet werden. Der Arzneimitteleinsatz soll deutlich reduziert, der Bildungs-, Kenntnis- und Motivationsstand der in der Tierhaltung beschäftigten Personen verbessert werden. Schließlich sehen die Leitlinien eine stärkere Berücksichtigung funktionaler Merkmale in der Zucht wie Tiergesundheit und Robustheit vor. Laut Spiller ist die Umsetzung der Maßnahmen mit unterschiedlichen Kosten verbunden. Sie reichten von rund 3 % in der Milchviehhaltung bis rund 34 % in der intensiven Rinder- und Schweinemast.
Sofortmaßnahmen
Es gehe um eine „neue Kultur der Fleischerzeugung und des Fleischkonsums”, so Spiller. Er betonte ebenso wie Grethe den langfristigen Charakter der Vorschläge. Dessen ungeachtet gebe es eine Reihe von Maßnahmen, mit denen auf den unterschiedlichen Ebenen bereits unmittelbar begonnen werden könne. Zu den Sofortmaßnahmen zählt der Beirat ein Bundesprogramm Tierwohl mit dem Aufbau eines nationalen Tierwohl-Monitorings, der Förderung innovativer Formen der Bürgerbeteiligung, Qualifikationsnachweise und Fortbildungsverpflichtungen für Tierhalter und -betreuer sowie ein Forschungs- und Innovationsprogramm Tierwohl.
Bundesländer und Handel gefordert
Die Länder sehen die Wissenschaftler gefordert, die geltenden Tierschutzregelungen konsequent umzusetzen. In diesem Rahmen müssten die Länder klar kommunizieren, dass sie Erlasse zur Durchsetzung des Verzichts auf die bereits verbotenen, aber durch Ausnahmeregelungen weiter zulässigen nicht-kurativen Eingriffe herausgeben würden. Der Beirat nennt hierfür eine Umsetzungsfrist von drei Jahren; lediglich bei Puten seien fünf Jahre einzuräumen.
Für rasche Fortschritte auf EU-Ebene schlägt der Beirat eine deutsche Initiative zur Anhebung von Mindeststandards sowie für Übereinkünfte der nordwesteuropäischen Kernländer der Tierhaltung vor. Mittelfristig müsse die GAP so umgestaltet werden, dass sie mehr Tierschutzanreize setze. Neben einer erheblich verbesserten finanziellen Ausstattung der Brancheninitiative Tierwohl erwarten die Wissenschaftler insbesondere vom Lebensmitteleinzelhandel, dass er mit Marktdifferenzierungen und Auslistungen zu einer Neuausrichtung der Tierhaltung beiträgt.