Einen weitergehenden Umbau der Tierhaltung in Deutschland hält der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium für erforderlich.
Die Wissenschaftler wollen allen Nutztieren Zugang zu verschiedenen Klimazonen verschaffen. Wo machbar, soll dies über Außenklima ermöglicht werden.
In ihrem mehr als 400 Seiten starken Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung”, das der Beiratsvorsitzende Prof. Harald Grethe vergangene Woche dem Parlamentarischen Staatssekretär vom Bundeslandwirtschaftsministerium, Peter Bleser, übergeben hat, bezeichnen die Wissenschaftler die derzeitigen Haltungsbedingungen als nicht zukunftsfähig. Sie begründen dies mit fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz und einem hohen Risiko für Tierleid in gängigen Haltungssystemen. Die Mehrkosten für notwendige Anpassungen, die teils über einen längeren Zeitraum notwendig seien, veranschlagt der Beirat auf 13 bis 23 % der jährlichen Produktionskosten. Dies entspricht einer Summe von 3 bis 5 Mrd. Euro. Aufgebracht werden sollen diese Mittel von Staat, Konsumenten und Wirtschaft.
Der Beirat empfiehlt unter anderem ein Bundesprogramm Tierwohl und ein mehrstufiges staatliches Tierschutzlabel. Gefordert werden eindeutigere und zusätzliche gesetzliche Mindeststandards sowie Prämien und Kompensationszahlungen im Rahmen der Ersten und Zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Gelobt wird die Brancheninitiative Tierwohl, wenngleich ihre finanzielle Ausstattung viel zu gering sei.
Entstanden ist das Gutachten in dreijähriger Arbeit. Federführend waren der Göttinger Agrarökonom Prof. Achim Spiller sowie der Agrarwissenschaftler und Veterinärmediziner Prof. Matthias Gauly von der Universität Bozen.
Erhebliche Schwächen
In der Wirtschaft stieß das Beiratsgutachten auf
Kritik. Der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes (DBV),
Bernhard Krüsken, sprach von erheblichen Schwächen in der Analyse der
derzeitigen Situation, den methodischen Grundlagen und den Bewertungen.
In einer Diskussion mit den Autoren bezeichnete Krüsken die vorgebrachte
Kritik an den gegenwärtigen Haltungsbedingungen und die Forderung nach
einer 180-Grad-Wende in der Tierhaltung als unbegründet und nicht
gerechtfertigt. Die Hauptgeschäftsführerin vom Verband der
Fleischwirtschaft (VdF), Dr. Heike Harstick, hielt dem Beirat vor, er
habe keine neutrale wissenschaftliche Analyse vorgelegt, sondern sich
von Werturteilen leiten lassen. Harstick vermisst insbesondere ein
geeignetes Referenzsystem, das den Vorwurf der erheblichen Defizite in
der hiesigen Nutztierhaltung rechtfertige.
Demgegenüber begrüßte der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes,
Thomas Schröder, die Aussagen des Beirats als Bestätigung langjähriger
Tierschutzforderungen und Aufruf zum politischen Handeln. Andere
Verbände aus dem Agrar- und Umweltbereich reagierten ebenfalls positiv.
Bei SPD, Linken und Grünen fand das Gutachten Zustimmung. Auch die Union
reagierte positiv, bemängelte aber eine unzureichende Würdigung der
bereits ergriffenen Maßnahmen. Laut Bleser haben die Wissenschaftler
eine Diskussionsgrundlage für die Entwicklung der Tierhaltung in den
nächsten zehn bis 15 Jahren vorgelegt.
Solider Leitfaden
„Die
gegenwärtigen Tierschutzprobleme gefährden die Akzeptanz der Tierhaltung
in Deutschland”, sagte Beiratsvorsitzender Grethe bei der Vorstellung
des Gutachtens. Dem Beirat gehe es nicht um einseitige
Schuldzuweisungen. Stattdessen wolle man anhand eines „soliden
Leitfadens” aufzeigen, wie die aus Beiratssicht unerlässliche
Neuausrichtung der Tierhaltung umgesetzt werden könne. Entscheidende
Voraussetzung dafür sei der politische Wille, einen Kurswechsel
einzuleiten. Die Landwirte benötigten eindeutige und verlässliche
politische Signale, was in den nächsten Jahren auf sie zukomme, um ihre
Investitionsentscheidungen danach auszurichten. Keinesfalls dürften sie
mit den zu erwartenden Kosten allein gelassen werden, warnte der
Hohenheimer Agrarökonom. Andernfalls würden Teile der hiesigen
Produktion in Länder mit geringen Tierschutzstandards abwandern.
Grethe sieht in dem Gutachten einen Beitrag zur Versachlichung der
Diskussion. Als Beispiel nannte er die aus seiner Sicht unzulässige
Verengung der öffentlichen Tierwohldiskussion auf die Betriebsgröße. Es
sei unstreitig, dass die Betriebsgröße gegenüber anderen
Einflussfaktoren wie der Managementqualität nur einen geringen Einfluss
auf das Tierwohl habe. Allerdings hält der Beirat regionale
Bestandsobergrenzen für unausweichlich, sollte es nicht gelingen, über
eine Verschärfung des Düngerechts die negativen Umwelteffekte in
viehdichten Gebieten in den Griff zu bekommen.
Neun Leitlinien
Der Beirat
schlägt in seinem Gutachten neun Leitlinien für die Entwicklung einer
„Tierhaltung 2030” vor. Laut Spiller beruhten diese auf einer
Kombination aus fachwissenschaftlichen Vorschlägen und Werturteilen der
Bevölkerung, wie sie sich aus Studien zu diesem Bereich ergäben. So
will der Beirat allen Nutztieren Zugang zu verschiedenen Klimazonen
verschaffen. Wo möglich, soll dies über Außenklima ermöglicht werden.
Den Tieren sollen unterschiedliche Funktionsbereiche mit verschiedenen
Bodenbelägen angeboten werden. Zur artgemäßen Beschäftigung,
Nahrungsaufnahme und Körperpflege sollen ihnen geeignete Einrichtungen,
Stoffe und Reize zur Verfügung stehen. Ferner schreiben die Leitlinien
ausreichend Platz sowie den Verzicht auf Amputationen vor.
Die Betriebe sollen zu Eigenkontrollen anhand tierbezogener
Tierwohlindikatoren verpflichtet werden. Der Arzneimitteleinsatz soll
deutlich reduziert, der Bildungs-, Kenntnis- und Motivationsstand der in
der Tierhaltung beschäftigten Personen verbessert werden. Schließlich
sehen die Leitlinien eine stärkere Berücksichtigung funktionaler
Merkmale in der Zucht wie Tiergesundheit und Robustheit vor. Laut
Spiller ist die Umsetzung der Maßnahmen mit unterschiedlichen Kosten
verbunden. Sie reichten von rund 3 % in der Milchviehhaltung bis rund
34 % in der intensiven Rinder- und Schweinemast.
Sofortmaßnahmen
Es gehe
um eine „neue Kultur der Fleischerzeugung und des Fleischkonsums”, so
Spiller. Er betonte ebenso wie Grethe den langfristigen Charakter der
Vorschläge. Dessen ungeachtet gebe es eine Reihe von Maßnahmen, mit
denen auf den unterschiedlichen Ebenen bereits unmittelbar begonnen
werden könne. Zu den Sofortmaßnahmen zählt der Beirat ein Bundesprogramm
Tierwohl mit dem Aufbau eines nationalen Tierwohl-Monitorings, der
Förderung innovativer Formen der Bürgerbeteiligung,
Qualifikationsnachweise und Fortbildungsverpflichtungen für Tierhalter
und -betreuer sowie ein Forschungs- und Innovationsprogramm
Tierwohl.
Bundesländer und Handel gefordert
Die Länder sehen die Wissenschaftler gefordert,
die geltenden Tierschutzregelungen konsequent umzusetzen. In diesem
Rahmen müssten die Länder klar kommunizieren, dass sie Erlasse zur
Durchsetzung des Verzichts auf die bereits verbotenen, aber durch
Ausnahmeregelungen weiter zulässigen nicht-kurativen Eingriffe
herausgeben würden. Der Beirat nennt hierfür eine Umsetzungsfrist von
drei Jahren; lediglich bei Puten seien fünf Jahre einzuräumen.
Für rasche Fortschritte auf EU-Ebene schlägt der Beirat eine deutsche
Initiative zur Anhebung von Mindeststandards sowie für Übereinkünfte der
nordwesteuropäischen Kernländer der Tierhaltung vor. Mittelfristig
müsse die GAP so umgestaltet werden, dass sie mehr Tierschutzanreize
setze. Neben einer erheblich verbesserten finanziellen Ausstattung der
Brancheninitiative Tierwohl erwarten die Wissenschaftler insbesondere
vom Lebensmitteleinzelhandel, dass er mit Marktdifferenzierungen und
Auslistungen zu einer Neuausrichtung der Tierhaltung beiträgt.