Tierhaltung | 13. Oktober 2016

Eindecken sollte Ausnahme bleiben

Von Ulrike Amler
Mit kürzer werdenden Tagen und zunehmend längerem Winterfell diskutieren Pferdebesitzer wieder das Für und Wider von Pferdedecken. Spätestens dann sind auch Stallbetreiber gefordert, einen Deckendienst anzubieten oder mit schlüssigen Argumenten abzulehnen.
Nicht nur Ponys können mit ihrem Winterfell Kälte und Nässe vom Körper fernhalten. Voraussetzung ist allerdings ein gutes Raufutterangebot.
Der Pferdeorganismus ist ein Kraftwerk, das Bewegung und Wärme erzeugen kann. Der Erhalt der Körperkerntemperatur innerhalb einer kleinen Toleranzspanne ist überlebenswichtig und sehr gut entwickelt. Die Komforttemperatur, auch thermoneutrale Zone genannt, von Pferden liegt zwischen minus 15 und plus 25 Grad, im Optimum bei 5 Grad trockener Kälte. Damit bewegen sich Pferde im Bereich von Milchkühen und weit entfernt von menschlichen Kuschelbedürfnissen. Erst unter minus zehn Grad beginnen gesunde Tiere mit einem intakten Winterfell, über die Intensivierung des Stoffwechsels zusätzliche Wärme zu produzieren. Die Anatomie, der Stoffwechsel und das Verhalten haben wesentlichen Einfluss auf die Thermoregulation. Am sichtbarsten ist die Entwicklung des Winterfells, das durch Photoperiodismus und eine Veränderung der Außentemperaturen ab Ende August zu wachsen beginnt. Abhängig von der geographischen Herkunft der Pferderasse ist es bei Südpferden eher kurz und fein und bei nordischen Rassen meist lang, mit dicken Haaren und ausgeprägter Unterwolle. Diese Unterschiede sind auch innerhalb einer Rasse in verschiedenen Klimazonen zu beobachten. So haben Islandpferde aus dem gemäßigten und vom Golfstrom geprägten Südwesten mit einem Klima, das dem von Hamburg entspricht, ein kürzeres und feineres Fell als Pferde aus dem subpolaren Nordosten der Insel. Ähnliches kann man aber auch bei Südpferden beobachten.
Outdoorschutz mit Muskelkraft
Wie bei der Gänsehaut des Menschen richten auch beim Pferd die Haarbalgmuskeln die Haare auf oder legen sie an und sorgen so je nach Temperatur für mehr oder weniger Isolation und die Möglichkeit, über den Luftstrom an der Haut Wärme abzugeben. Mit einer Decke wird diese Muskeltätigkeit unterbunden. Allerdings ist auch die Thermoregulation des Pferdes auf regelmäßiges Training angewiesen.
Die Talgschicht auf Haut und Haaren entspricht der Wetterschutzimprägnierung. Die längeren, spitz zulaufenden Deckhaare legen sich bündelweise aneinander und lassen Regen und langsam schmelzenden Schnee nach außen abfließen. Auch Schweiß wird auf diese Weise bei intaktem Fell nach außen abgeleitet. Während das Fell außen noch nass ist, ist die tiefere Schicht bereits trocken. Das Pferdefell funktioniert wie die Hightech-Membran moderner Outdoorbekleidung. Zu gründliches Ausbürsten des Talges – und des Schmutzes an Stellen außerhalb von Sattel- und Gurtlage und im Bereich des Zaumes – reduziert den Nässeschutz des Fells erheblich und ist lediglich eine ästhetische Maßnahme. 
Die Fähigkeit, sich erfolgreich mit Nässe auseinanderzusetzen, wird durch das Scheren vollständig zerstört. Die nachwachsenden Haare sind stumpf und nicht mehr zur Wasserableitung in der Lage. Dieses kann viel leichter auf die Haut durchdringen und zur Auskühlung führen. Das Scheren wird neben dem Argument, dass das Pferd durch die Arbeit zu nass zurück in den Stall kommt, häufig auch praktiziert, um sich das aufwendige Putzen des Winterfells zu sparen.
Kritisch kann es für das Pferd in der Tat werden, wenn es von innen und außen gleichzeitig nass ist, das heißt zum Schweiß Niederschlag oder nebelfeuchte Luft von außen kommt. Die Wärmeleitfähigkeit von feuchter Luft ist weitaus größer als die von trockener Luft und der Energieverlust an diesen Tagen  größer. Dennoch ist es für die Tiere wichtig, dass durch Kältereize die Thermoregulation gefordert wird, da diese auch eng mit dem Immunsystem zusammenhängt und dieses stimuliert. Der Konflikt kann in der Praxis vermieden werden, wenn das Pferd an solch nasskalten Tagen in ruhigerem Tempo, aber dafür länger bewegt wird. Starkes Schwitzen ist vielfach auch bei gestressten Pferden unter dem Sattel zu beobachten.
Schur zerstört Thermoregulation
Schnee und Wasser perlen bei intaktem Winterfell am Deckhaar ab.
Der Einfluss des frühen Eindeckens im Spätsommer auf das Fellwachstum ist geringer als vielfach erwartet. Eine Teil- oder Komplettschur zerstört die Thermoregulation vollständig und setzt das Pferd ungeschützt der vorherrschenden Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Wind aus. Eine Decke kann dies nur bedingt ausgleichen und ist aufwendig im Handling. Vor allem im Herbst und Frühjahr, bei hohen Tagestemperaturschwankungen, müsste sie mehrmals täglich in ihrer Isolationsfähigkeit angepasst werden, um ein Überhitzen oder Frieren zu vermeiden. Regelmäßiges Umdecken verhindert auch Druck- und Scheuerstellen. Bei geschorenem Fell kann der Schweiß bei hoher Luftfeuchtigkeit nur mithilfe von leistungsfähigen Abschwitzdecken von der Haut abgeleitet werden. Pferde würden sich bei freier Wahl zum Trocknen vorübergehend an einem leicht windigen und luftigen Ort aufhalten, nicht dagegen in feuchtigkeitsübersättigter Stallluft.
Die Haut spielt als größtes Organ eine wesentliche Rolle in der Thermoregulation. Sie wirkt aufgrund ihrer Stärke – mit 3,2 mm ist sie aufgrund der dickeren Kollagenschicht unter der Oberhaut um ein Viertel dicker als die des Menschen – wie eine Isolierung. Unter der Haut kann das Pferd die Wärmeabgabe über die arterielle Gefäßverengung und –erweiterung regulieren und das Körperinnere kühlen oder den Wärmeverlust reduzieren. Eine weitere Maßnahme ist die Schweißbildung, die dann eintritt, wenn das Pferd den Anstieg der Körpertemperatur allein durch eine Erweiterung der Gefäße nicht mehr verhindern kann. Der Schweiß sorgt für Verdunstungskälte auf der Hautoberfläche. Vor allem in der Übergangszeit birgt das die Gefahr, dass dicke Thermodecken das Pferd tagsüber schwitzen lassen und die Decke möglicherweise feucht wird. Dann kann es in den Nachtstunden zum Unterkühlen des Pferdes kommen, da es vorhandenes Fell nicht aufstellen und ein isolierendes Luftpolster schaffen kann.
Isolierendes Körperfett
Das Körperfett spielt bei Pferden als Energiereserve wie auch zur Isolation eine wichtige Rolle. Das muss bei der Rationsgestaltung berücksichtigt werden. Aus diesem Grund darf es in den aktuellen Diskussionen um EMS und Hufrehe nicht per se schlechtgeredet werden, sondern muss dem Pferd in angemessener Menge zugestanden werden. Für wildlebende Pferde ist es völlig normal, im Herbst bis zu 20 Prozent Gewicht zuzulegen. Da im Stallbau die Innentemperatur der Außentemperatur folgen sollte und ein stark isolierter oder schlecht durchlüfteter Stall nicht tiergerecht ist, sind Jahreszeiten für den Pferdeorganismus auch bei ganzjähriger Stallhaltung Realität. Wird ein geschorenes Pferd dagegen zum Reiten abgedeckt, wirkt das wie ein plötzlicher Temperaturschock, auf den das Pferd mit hoher Bewegungsaktivität, von Reitern gerne als Arbeitswille bis hin zur „Spinnerei wegen der Kälte” fehlinterpretiert, reagiert. Dem Argument, dass große im Südtyp stehende Pferderassen aufgrund des kürzeren Fells weniger Kälte vertragen, steht die wissenschaftliche Erkenntnis entgegen, dass ein größerer Körper im Verhältnis zur Körpermasse eine geringere Körperoberfläche und entsprechend weniger Wärmeverluste hat als eine kleine Statur. Das Großpferd ist im Hinblick auf Wärmeverluste hier sogar im Vorteil. Das erklärt auch, weshalb Ponys, Kleinpferde und Fohlen ein längeres und dickeres Winterfell bilden als ausgewachsene Großpferde. Damit entsprechen Pferde dem allgemeinen Naturphänomen, dass gleiche Tierarten in kalten Klimazonen stets kleinere Individuen von gedrungener Statur hervorbringen.
Heizmaterial kommt aus der Raufe
Haben sie einen trockenen Unterstand, werden nicht geschoren und im Winter angepasst trainiert, können auch Warmblüter der Kälte ohne Decke trotzen.
Neben dem Abbau von körpereigenem Fett stellen Pferde vor allem aus der Verdauung rohfaserreichen Futters Wärmeenergie bereit. Der normale Erhaltungsbedarf ändert sich im Bereich der thermoneutralen Zone bei Windstille und Trockenheit erst, wenn Luftfeuchtigkeit und Windgeschwindigkeit wesentlich zunehmen. Das niedersächsische Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten setzt in seinen Empfehlungen für die Freilandhaltung von Pferden bei Temperaturen für jedes Grad Celsius unter –15 °C für Großpferde einen zusätzlichen Energiebedarf von 1,7 MJ an. Der Pferdeheilpraktiker Manfred Huber aus Breisach hat in einer umfassenden wissenschaftlichen Literaturrecherche vorhandene Veröffentlichungen ausgewertet und gibt an, dass „Pferde 0,2 bis 2,5 % mehr Energie für die Aufrechterhaltung ihrer Körpertemperatur pro sinkenden 1 °C Außentemperatur unterhalb ihrer kritischen, niedrigsten Körpertemperatur benötigen.” Die Spannweite ergibt sich aus individuellen Anforderungen einzelner Individuen. Gesunde Pferde mit einem normalen oder etwas üppigeren Speckpolster benötigen später eine Raufutterzulage als ältere Tiere, solche mit einem schwachen Immunsystem sowie Absetzer und Jungpferde. Kalte Temperaturen sollten jedoch nicht zum „Abschmelzen” von Fettpolstern durch extrem restriktive Raufutterrationen genutzt werden, da dies zu Stress und einem negativen Einfluss auf das Immunsystem führt. Hier ist gemäßigtes Ausdauertraining im aeroben Bereich viel sinnvoller, sofern der Reiter über ausreichend Härte bei kalten Temperaturen verfügt.
Pferde neigen im Winter zu einer Reduzierung der Stoffwechselaktivitäten und damit einhergehend geringeren Bewegungsaktivitäten. Das haben auch Forscherinnen der Universität Göttingen in Untersuchungen bestätigt. Insofern ist das dicke Winterfell nicht der Grund, dass ungeschorene Pferde weniger „Lust” haben zu arbeiten. Ihr Körper passt sich lediglich den natürlichen klimatischen Rahmenbedingungen an, auf die sie in ihrer langen Entwicklungsgeschichte konditioniert wurden. Hierzu gehört aber auch, dass bei einem plötzlichen Temperatursturz Phasen erhöhter Bewegungsaktivität zu beobachten sind, in denen Pferde durch erhöhte Muskelarbeit die benötigte Wärme  produzieren, bis die anderen Stellmechanismen der Thermoregulation auf die veränderte Situation reagieren und beispielsweise eine erhöhte Raufuttermenge den Dickdarm erreicht hat.
Artgerechte Haltung
Pferde können ihre körpereigenen Schutzmechanismen wie die Thermoregulation und das Immunsystem nur dann optimal nutzen und trainieren, wenn sie unter Bedingungen gehalten werden, die ihren natürlichen Bedürfnissen am nächsten kommen.
Im Schluss heißt das, nicht unwirtliches Winterwetter macht Pferde krank, sondern vielmehr unangemessene Haltungsbedingungen und die unangepasste Ausübung des Reitsports in der „natürlichen Winterruhephase” von Pferden. Offenställe mit ausreichend Witterungsschutz für alle Herdenmitglieder bieten Pferden die Möglichkeit, ihren leistungsfähigen natürlichen Anlagen entsprechend auf kalte und nasse Witterung zu reagieren.
In Einzelstallhaltung können Pferde viele dieser Verhaltensweisen und physiologischen Vorgänge aufgrund von stallklimatischen Bedingungen oder einem intensiven Training nicht für sich nutzen. Scheren und Eindecken hat hier nur einen vordergründigen Nutzen, birgt aber das Potenzial für viele Fehler und einen erheblichen Arbeitsaufwand. Dies gilt es insbesondere bei der Haltung von sogenannten Freizeitpferden kritisch abzuwägen.