Land und Leute | 28. Dezember 2020

Hüterin der alten Sorten

Von Anne Hahnenstein
Saatguterhaltung - Im barocken Garten von Schloss Wildegg wachsen vergessene Nutzpflanzen und rare Gemüsesorten. Die alte Schlossgärtnerei ist das neue Kompetenzzentrum für Samenbau und die erste Samengärtnerei unter der Regie der Sortenretter von ProSpecieRara.
Jessica Türler leitet die Saatgutvermehrung von ProSpecieRara in Wildegg/CH.
Jessica Türler ist 23 Jahre alt und überzeugt durch Souveränität und gärtnerisches Fachwissen. Die junge Frau managet als Betriebsleiterin mit einer 60-Prozent-Teilzeitstelle seit Frühjahr 2019 die ersten eigenen Saatgutvermehrungen von ProSpecieRara auf der circa 1000 qm großen Anbaufläche in Wildegg. Etwa 25 verschiedene Gemüse-, Blumen- und Kräutersorten hat sie sehr aufmerksam im Blick. Das Saatgut, das sie von den Pflanzen gewinnt, ist wertvoll. Es kommt in die Samenbibliothek von ProSpecieRara in Basel oder ist für andere Genbanken vorgesehen. Auch das Schweizer Bundesamt für Landwirtschaft vergibt Vermehrungsaufträge an den kleinen Spezialbetrieb. Kapazität hat die Gärtnerei für etwa doppelt so viele Anbauprojekte. Wie die Investitionen für die Modernisierung, so ist auch das Personalbudget spendenfinanziert. Momentan trägt es eine Gärtner- beziehungsweise Gärtnerinnen-Teilzeitstelle. Doch Jessica Türler ist mit vollem Einsatz dabei. Mit ihrer Erfahrung aus der Lehre in einer Biowildstaudengärtnerei und in der Staudenvermehrung hat sie einen geschulten Blick für Pflanzenmerkmale entwickelt. Und auf den kommt es in einer Samengärtnerei besonders an.
„Hierher kommen entweder alte Pflanzensorten, von denen wir nur ganz wenig Saatgut im Archiv haben, oder Raritäten, die neu zu uns gelangen. Diese werden hier erstmal gesichtet, um die Sorten besser kennenzulernen und Duplikate ausschließen zu können.” So erklärt die  Betriebsleiterin die ausgewählten 25 Vermehrungsprojekte. Jessica Türlers Ansprechpartnerin in der ProSpecieRara Zentrale in Basel ist Mira Oberer, Projektleiterin Samenbibliothek. Mit ihr stimmt sie den Anbau und die Selektionskriterien ab. „ProSpecieRara werden immer wieder Sortensammlungen gemeldet, die – meist weil sie von  Sammlungsbetreibern altershalber aufgeben werden – gefährdet sind. 
Das eindrucksvolle historische Wirtschaftsgebäude aus Holz in der ProSpecieRara Samengärtnerei am Fuße des Schlosshügels entspricht im Stil dem Ensemble der Schlossdomäne Wildegg.
Neue Flächen helfen
Dank der neu geschaffenen Samengärtnerei haben wir nun eigene Flächen, die eine spontane Aufnahme und kurzfristige, schnelle Absicherung von Pflanzen ermöglichen. Damit erhalten wir mehr Zeit, um einen Platz für die langfristige Bewahrung der Pflanzen zu finden, sagt Mira Oberer, für die das Samengärtnereiprojekt ein Herzensanliegen ist.
„Ergänzend zu den vielen ehrenamtlichen Sortenbetreuerinnen und -betreuern fehlten uns bisher Flächen für Gemüse mit größeren Platzansprüchen wie Zichoriensalate, Kohlarten, Kürbisgewächse, Rübengewächse, etc. Jetzt können wir auch Fremdbefruchter in größeren Parzellen anbauen, damit eine Selektion von Samenträgern aus höheren Individuenzahlen möglich wird.” Genau das vertraut sie Jessica Türler an, die das Saatgut von solchen Pflanzen erntet, die wüchsig und vital sind und die sortenspezifischen Merkmale besonders gut ausprägen.
Bei Fremdbefruchtern ist ein großer Abstand zu ungewünschten Befruchterpflanzen einzuhalten. Wilde Karotte kreuzt sich gern bei domestizierten Karotten ein, oder für ein Kürbisprojekt muss Jessica alle unmittelbaren Nachbarn bitten, in der Saison auf den Anbau von Zucchini und andere Gartenkürbisse zu verzichten. Bei Paprikasorten erfordert die Selektion auch den Einsatz ihrer Geschmacksnerven, denn bei milden Sorten kann es passieren, dass sich plötzlich Schärfe als Eigenschaft ausprägt. Die Samenkörner solcher Früchte eignen sich nicht als Saatgut.
 
Insekten anlocken oder abhalten
Was beim Rundgang durch den modernisierten Betrieb auffällt, ist das historische Wirtschaftsgebäude aus Holz, das im Stil dem Ensemble der Schlossdomäne entspricht und Bestandschutz hat. Daran angrenzend gibt es noch kleine ältere Gewächshausflächen, die Jessica nur im Spätwinter und Frühjahr für die Anzucht nutzen kann, im Sommer wird es darin für das Gemüse zu heiß. Im modernen Foliengewächshaus mit automatischer Lüftung und auf den Beeten, die vielfach mit Netztunneln überbaut sind, fallen immer wieder aparte Blühpflanzen auf wie Blauer Waldmeister, Schopfsalbei oder Moldawischer Drachenkopf. Damit lockt Jessica Türler die Nützlinge an. Auf chemischen Pflanzenschutz und Mineraldünger verzichtet die Biogärtnerin, doch eine Zertifizierung als anerkannter Biobetrieb strebt man nicht an. Im Zweifelsfall will man sich die Möglichkeit bewahren, den Erhalt einer raren Sorte vor der Biokonsequenz zu priorisieren. Die frei fliegenden Insekten sind jedoch nicht in jedem Fall erwünscht: Die Karotten beispielsweise werden mit Netzen geschützt und von eigens darunter ausgesetzten Fliegen bestäubt, um die weiter oben beschriebene Verkreuzung mit Wilden Möhren ausschließen zu können. Insektenschutznetze vermeiden außerdem beispielsweise bei Bohnen Virenübertragungen von saugenden oder stechenden Schadinsekten.
 
Im Gewächshaus locken Moldawischer Drachenkopf und Schopfsalbei bestäubende Insekten an.

Manche Gemüsearten erkennt man erst auf den zweiten Blick. Ein bizarres Wirrwarr aus Stängeln, Laub und Samenständen verbirgt die Knollen von Radieschen oder Randen, die im Vorjahr nicht geerntet wurden. Sie sind im Folgejahr zur Blüte gekommen und halten sich nun unter der üppigen Last der Samenstände verstecken. ProSpecieRara arbeitet seit Langem sehr erfolgreich mit dem großen Schweizer Lebensmittelhändler Coop zusammen. Dort finden sich landesweit saisonale Obst- und Gemüsesorten mit dem Label von ProSpecieRara in den Regalen. Doch dies ist nicht das einzige Ziel, das mit der Vermehrung und Erhaltung der Sorten verfolgt wird: „Vielfalt bedeutet auch Nischen jenseits der Großverteiler zu beachten”, sagt Mira Oberer. „Etwa mit Gemüse, das sich ideal für die Gastronomie eignet, oder Pflanzen, an denen Hobbygärtner Freude haben.” Für sie soll ab nächstem Frühjahr in Wildegg ein kleiner Selbstbedienungskiosk mit Setzlingen und Saatgut eingerichtet werden.
Schloss Wildegg
Im barocken Schau- und Lustgarten der Schlossdomäne Wildegg sind an die 300 Pflanzen zu Schauzwecken angepflanzt – eine Fundgrube für Interessierte. Die Samengärtnerei selbst liegt am Fuße des Schlosshügels.
Im barocken Schau- und Lustgarten werden auf über 3000 qm jedes Jahr an die 300 verschiedene Ackerpflanzen, Reben, Färberpflanzen, Weiden, Kräuter, Obst, Gemüse, Beeren, Kartoffeln und Zierpflanzen zu Schauzwecken angepflanzt. Eine wahre Fundgrube für Sonderkulturproduzenten, Hobbygärtner oder Profiköche. Neben Gärten und Schlossmuseum hat die Domäne einen historischen Gasthof, einen Biobauernhof mit Hofladen und eine Voliere mit seltenen Vögeln zu bieten. Schloss Wildegg ist das einzig „sprechende” Schloss der Schweiz, z. B.  plaudert im Gemüsekeller der gegenwärtige Gärtner Bruno mit der Schlossdame Sofie Effinger aus dem 18. Jahrhundert und erklärt ihr die „Rettungsstation” der regionalen Sorten. Der Besuch der Samengärtnerei ist momentan nur an ausgeschriebenen Anlässen oder Kursen möglich. Angehende Sortenerhalter  können praxisnah Selektionsarbeit kennenlernen, Pflanzen pflegen, Samen ernten, Pflanzen teilen und vieles mehr.
 
Links:
www.museumaargau.ch/schloss-wildegg/garten; 
www.meriangärten.ch/de/wissen/sortenvielfalt/psr. html
 
Interesse am Sortenerhalt?
Pro SpecieRara Deutschland sucht immer wieder  Sortenerhalterinnen und Sortenerhalter aus Südbaden. Wenden Sie sich bei Interesse an: ProSpecieRara Deutschland gGmbH, Kartäuserstraße 49,  79102 Freiburg i. Brsg., Telefon 0761/59 390007 oder per E-Mail: info@prospecierara. de
 
Aus Pionieren wurden Profis - ProSpecieRara wurde 1982 in der Schweiz als Stiftung gegründet, um gefährdete Kulturpflanzen sowie Nutztiere vor dem Aussterben zu retten und die genetische und kulturhistorische Vielfalt  für künftige Generationen zu bewahren. Dazu hat man ein landesweites Netzwerk von ehren- amtlichen Sortenbetreuern und Züchtern aufgebaut. Mehr als 3000 Privatpersonen und Institutionen betreuen und züchten Gemüse-, Obst- und Zierpflanzensorten sowie Nutztierrassen. Hinzu kommen viele  Spender. Mit ihrer jährlichen Spende, der Gönnerschaft, bekommen die Förderer von der Stiftung Informationen plus Saatgut und Kurse zu ermäßigten Preisen.
2011 wurde mit der Stiftung Kaiserstühler Garten die gemeinnützige GmbH ProSpecieRara Deutschland in Freiburg ins Leben gerufen, wo man sich auf den Erhalt von Nutzpflanzen konzentriert. Auch hierzulande gibt es ein Netzwerk von Sortenbetreuern, Gärtnereien, Schaugärten, Züchtern und Vermarktern, die  dafür sorgen, dass traditionelle Sorten angebaut, genutzt und nachgefragt wer den. Eine wahre Fundgrube sind digitale Sortenfinder für Deutschland und die Schweiz, welche Hobbygärtnern 3000 archivierte Sorten zugänglich machen. Siehe www.prospecierara.ch  und www.prospecierara.de