Land und Leute | 26. Juni 2014

„Ich will doch niemandem zur Last fallen”

Von Karin Vorländer
Wir kommen als „Pflegefall” zur Welt. Bedürftig, schwach, ohne Zähne, oft auch ohne Haare. Wir werden in Windeln gewickelt und müssen gefüttert werden. Am Ende des Lebens kann das wieder so sein – viele haben Angst davor.
Zu Beginn unseres Lebens sind wir vollständig auf Fürsorge angewiesen. Dass sich auf der letzten Wegstrecke des Lebens der Kreis schließt und wir womöglich wieder auf Pflege und Fürsorge angewiesen sind, das ist für 82 Prozent der Bundesbürger die größte Sorge für die persönliche Zukunft. Bei einer im Jahr 2013 erfolgten Umfrage zu den größten Ängsten der Deutschen stand die Pflegebedürftigkeit im Alter auf Platz drei der Ängste. Aktuell von Pflegebedürftig-keit betroffen sind laut Angaben des statistischen Bundesamts 2,4 Millionen Menschen. Gut ein Drittel davon befindet sich in stationärer Dauerpflege.
„Dass meine Kinder sich jetzt an den Kosten für das Seniorenheim beteiligen müssen, ist mir ganz schrecklich”, erzählt die 92-jährige Edelgard Jaeger. Auf einem  Bauernhof aufgewachsen, wo es selbstverständlich war, dass  die alten Eltern zu Hause gepflegt wurden, konnte sie sich lange nicht vorstellen, je in ein Heim zu gehen. Aber die Zeiten ändern sich:  Heute sind viele Frauen außer Haus berufstätig  und übernehmen die Pflege nicht, ganz zu schweigen von den Männern. So musste Edelgard Jäger  ihre kleine Wohnung im
Hilfe annehmen ist etwas ganz „Normales”.
Dachgeschoss ihres Hauses, das sie ihrem Sohn  überschrieben hatte, aufgeben. Jetzt erlebt sie, dass ihre Rente fürs Seniorenheim nicht ausreicht. Ihr Erspartes hatte sie bis auf eine Summe für ihre Beerdigung schon vor  mehr als zehn Jahren an Kinder und Enkel verschenkt, sodass das Sozialamt heute keinen Zugriff mehr auf die Schenkung hat. Dennoch werden ihre Kinder für die Kosten ihres Heimaufenthaltes nach den gesetzlichen Vorgaben herangezogen. „Dass meine Kinder jetzt für mich zahlen sollen, das fällt mir genauso schwer, wie beim Pflegepersonal um alles bitten zu müssen”, gesteht die geistig völlig klare Seniorin. Der Satz, den eine Freundin ihr ans Herz gelegt hat, widerstrebt ihr. „Ich bin berechtigt, Hilfe anzunehmen”, lautet er. „Du musst Einspruch gegen die innere Stimme erheben, die dir einflüstert: ‚Du bist eine Last für die anderen”‘, hatte ihre Freundin sie eindringlich gebeten. „Du warst in deinem Leben viel für deine Kinder da – jetzt sie sie einmal an der Reihe”, argumentierte die Freundin. Dennoch ist es für die 92-Jährige echte Seelenarbeit, das alte Muster „Ich schaff’ das schon alleine” abzulegen und Hilfe anzunehmen. „Morgens, mittags und abends sage ich mir vor, dass ich berechtigt bin, Hilfe anzunehmen. Mal sehen, wann ich es glaube”,  sagt  sie mit leisem Seufzer.
Gelassenheit und Dankbarkeit
Edelgard Jaeger ist kein Einzelfall. Genau wie sie empfinden viele Menschen ihrer Generation: Lieber geben als nehmen, lieber für andere sorgen als selbst versorgt werden müssen. Die Probleme alleine regeln, auf niemanden angewiesen sein, das haben sie ihr Leben lang trainiert. Im Alter das Nachlassen der Kräfte einzugestehen, die eigene Endlichkeit anzunehmen und sich dabei die dankbare Freude an dem, was jetzt noch möglich ist, nicht vom Morgen verdunkeln zu lassen: Das ist eine der Aufgaben, die sich im Alter ganz neu stellen. Denn ohne sich dessen bewusst zu sein, haben viele Menschen sich das heimliche, oder eher „unheimliche” Leitmotiv der ganz auf Schaffenskraft, Jugendlichkeit und Leistung ausgerichteten Gesellschaft zu eigen gemacht: Fit und faltenfrei bis kurz vor 90 und dann möglichst geräuschlos abtreten, „ohne jemandem zur Last zu fallen”.Spätestens im Alter ist es an der Zeit, den Zwang zur Leistung abzulegen und einen Lebensstil der Gelassenheit  und der Dankbarkeit für das, was es an Gelungenem und Schönem im eigenen Leben gab, einzuüben. Im Schwächerwerden, im Abnehmen der eigenen Möglichkeiten, im Nachlassen von Kräften und Initiativen liegt die  große Herausforderung der letzten Lebensphase, die es anzunehmen gilt.
Natürlich entspricht dieser Haltung auch eine ganz praktische, lebenskluge „Rückseite”: Die allermeisten Menschen möchten ihr Leben in der eigenen Wohnung, in der vertrauten Umgebung beschließen. Mit Blick auf Hilfsbedürftigkeit und Pflege im Alter sollte deshalb das Wohnumfeld rechtzeitig – möglichst in gesunden Tagen – in Augenschein genommen und, wo es möglich ist, altersgerecht umgebaut werden. Vom Einbau der randlosen Dusche bis zum Treppenlift könnte die Palette reichen. In manchen Fällen wird sogar ein Umzug zu erwägen sein.
Das kostet natürlich Geld – genau wie die Inanspruchnahme von Leistungen eines ambulanten Pflegedienstes, der über die von der Pflegekasse bezahlten Dienste hinausgeht. Und auch eine Pflegekraft, die ganztägig ins  Haus kommt, ist nicht zum Nulltarif zu haben. Auch wenn es schwerfallen mag, weil man doch den Kindern so gerne etwas vererben wollte, kann es nötig sein, vorhandene Rücklagen anzugreifen, um sich nötige Hilfe „einzukaufen”. Dann kann ein Gespräch mit den Erben Klarheit schaffen. Auch dafür, dass Angehörige die Pflege übernehmen, müssen die Voraussetzungen „stimmen”. Als kommunaler Fachberater für häusliche Pflege kennt Altenpfleger und Diplompsychologe Axel Ganter die Belastungen, die eine häusliche Pflege mit sich bringt. Schon im Vorfeld, wenn die Entscheidung über eine Pflege noch gar nicht akut ist, so rät er, sollte offen über die gegenseitigen Erwartungen gesprochen werden: Besteht eine tragfähige, liebevolle und warmherzige Beziehung oder gibt es alte Konflikte, die angesehen und bearbeitet werden müssen? „Wo das emotionale Fundament nicht in Ordnung ist, wird es mit der Pflege schnell schwierig”, weiß Ganter.
Fragen frühzeitig klären
Auch über Geld sollte geredet werden: Wie hoch ist das Pflegegeld? Welche Leistungen stehen Angehörigen rechtlich zu? Soll es eine finanzielle Entschädigung geben, etwa indem die Rente oder das Pflegegeld an die Hauptpflegeperson geht?
Gibt es Geschwister, die sich an der Pflege beteiligen oder finanziell dazu beitragen, dass bezahlte Hilfe stundenweise Entlastung schafft? Gibt es ein Testament, eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht? Diese Fragen anzusprechen und zu klären, kann helfen, sich nicht ausgeliefert und hilflos zu fühlen, wenn der gefürchtete Fall „Pflegefall” eintritt.