Pflanzenbau | 04. Oktober 2018

Obstkultur im Ländle

Von Markus Zehnder, Umweltamt Balingen
Baden-Württemberg ist das Land des Obstbaus. Er prägt die unterschiedlichsten Landschaften im Ländle, aber auch die Menschen seit vielen Generationen.
Das Erntedankfest gibt Anlass, sich über die reiche Ernte 2018 zu freuen.
Der Obstanbau ist mit Baden-Württemberg genauso eng verbunden wie seine Automobilindustrie und seine Schriftsteller. Schon Eduard Mörike, Wilhelm Hauff und Ludwig Uhland genossen während ihrer Tübinger Zeit den Most nach Herzenslust.
Kultur und Landschaft
Die (Streu-)Obstwiesen haben eine große kulturelle Bedeutung. Sie prägen die Lebensweise und den Charakter der Menschen. Leicht hügelige Landschaften mit großen Bäumen werden als besonders harmonisch empfunden und wirken sehr beruhigend auf Geist und Seele. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Dichter beim Anblick unseres Streuobstparadieses ins Schwärmen geraten sind. Die anmutige Landschaft mit blühenden oder im Herbstlaub leuchtenden Obstbäumen zieht bis heute viele Künstler in ihren Bann.
Die Landschaft prägt auch den Menschen und seine Kultur. Wo auf guten Böden bei warmem Klima alles fast wie von selbst gedeiht, lässt es sich gut leben und lustig sein. Der Alltag spielt sich im Freien ab und Geselligkeit ist Trumpf. Anders dagegen in rauen Gegenden, wo der Boden mühsam von Steinen befreit werden muss, um etwas anbauen zu können. Wo oft kühle Temperaturen herrschen, sodass erst ein wärmender Ofen Behaglichkeit ausstrahlt, ist es nicht verwunderlich, wenn die Bewohner etwas verschlossener sind und mit ihren Erzeugnissen sparsam umgehen.
Aber generell gilt: Der Most wird in Gesellschaft genossen – da steht er dem Wein in nichts nach. Und gesellige Menschen genießen das Leben. 
Keltereien unverzichtbar
Seit es Obstbäume gibt, wird aus den Früchten Saft hergestellt, der dann zu Most vergoren wird. Der Most ist damit eines der ältesten Getränke unserer Kultur. Der Konsum des alkoholischen Hausgetränkes hat sich im Laufe der Zeit jedoch deutlich verändert. Noch zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts war ein Mostkonsum von zwei- bis dreitausend Litern pro Haushalt und Jahr keine Seltenheit. Bier war für die ländliche Bevölkerung zu teuer und Wein den „feineren Leuten” vorbehalten.
Mit dem Wirtschaftswunder und steigendem Wohlstand auch auf dem Land übernahm das Bier immer mehr die Rolle des Mostes und seine Mengen gingen zurück. Inzwischen hat sich das Blatt wieder gewendet. Es wird zwar nach wie vor weniger Most als Bier konsumiert, aber das Interesse an der Herstellung eines guten eigenen Saftes oder Mostes steigt.
Man kann die Äpfel und Birnen nicht nur bei Fruchtsaftherstellern abliefern, um sich Geld auszahlen zu lassen oder im Gegenzug ein Saftkontingent gutgeschrieben zu bekommen. Viel Saft wird heute auch in der Mosterei erhitzt und unvergoren in doppelwandige Folienbeutel im Bag-in-Box-Verfahren abgefüllt. Viele kleine Mostereien im Land bieten inzwischen diese Dienstleistung an.
Aus dem Obst lassen sich auch andere delikate Produkte für den eigenen Bedarf herstellen, zum Beispiel knackig-leckere Apfelchips mithilfe eines Apfelschälers und eines Dörrapparates – das geht mit wenig Aufwand. Damit kann die große Obstschwemme in haltbare Formen gebracht und das ganze Jahr über genossen werden.
Haltbar sind auch die hochprozentigen Obstprodukte. Baden-Württemberg ist das Land der Kleinbrenner – die meisten der 29000 deutschen Kleinbrenner sind in Baden-Württemberg beheimatet. Sie sind für den Erhalt der Obstwiesen von entscheidender Bedeutung, verarbeiten sie doch etwa ein Viertel des Obstes zu Industriealkohol oder edlen Spirituosen. 
Erntesegen – Erntedank
Wann gab es in der Vergangenheit ein Jahr wie 2018, in dem nahezu alle Obstarten so viele Früchte trugen von Stein- und Kernobst bis hin zu Walnüssen und Quitten? Das ist keineswegs selbstverständlich. Bis zur Ernte müssen einige Hürden genommen werden, vor allem in Form von Schädlingen und Krankheiten sowie von widrigen Wetterverhältnissen.
So hat beispielsweise die Vegetationszeit 2018 bei den Äpfeln in den Streuobstwiesen mit einem starken Befall durch Gespinstmotten begonnen. Den gesamten Sommer über war es zu trocken und zeitweise auch zu heiß, sodass nicht nur die Gärten, sondern auch die Streuobstwiesen und Wälder unter Stress litten und bis heute leiden müssen. Den ganzen Sommer über konnten sich die Apfelwickler gut vermehren, regional waren fast alle Äpfel madig – während die Pflaumen so madenfrei waren wie schon lange nicht mehr.
Für die Obstbäume hatte die trockene Witterung aber auch Vorteile. Der Infektionsdruck durch Pilze wie Schorf und Mehltau war gering.
Es ist verwunderlich, dass aufs Ganze gesehen in der Obstsaison 2018 Fruchtgrößen und Saftausbeute zufriedenstellend bis gut ausgefallen sind. Denn in Verbindung mit dem außerordentlich hohen Ertrag hat die trockene Hitze die Bäume an ihre Leistungsgrenze gebracht. Wenn der Wassermangel andauert, besteht die Gefahr, dass die Bäume deutlich geschwächt in den Winter gehen. Kommt es dann im Frühjahr noch zu Spätfrösten, wird es äußerst kritisch. Daher wäre ein nasser Herbst und ein schneereicher Winter wünschenswert – nicht nur für die Bäume, auch für die Grundwasserreserven. 
Auf und Ab im Jahr 2018
Wir können einerseits überaus dankbar sein für den reichen Obstsegen. Andererseits ist es in einem Jahr wie diesem natürlich eine große Herausforderung, all das Obst zu ernten und zu verarbeiten. Begonnen hat der reiche Segen mit den Kirschen. Ausnahmsweise gab es wurmfreie und nicht aufgeplatzte Kirschen in bester Qualität auch ohne Pflanzenschutz. Die Ware konnte zu Marmelade, Saft oder Destillat verarbeitet oder in Gläser eingemacht werden. Schon im Juli begann die Ernte der frühen Apfelsorten. Die andauernde Trockenheit und zeitweilige Hitze haben allerdings dazu geführt, dass manche Früchte Sonnenbrand bekamen und infolge der Trockenheit unreif vom Baum fielen. Das hat viele dazu verleitet, das restliche, vermeintlich reife Obst zu schütteln und bei den Keltereien abzuliefern. Dort war dann die Enttäuschung groß, denn weder Zucker- noch Aromagehalt waren auch nur annähernd zufriedenstellend. Erst das ab Mitte September verwertete Obst ergab zufriedenstellende bis gute Qualitäten. Etwas Bewegung in die Preisgestaltung brachte das Angebot von Aufpreisinitiativen, die für regionales Obst bessere Preise zahlen, und von einzelnen großen Keltereien, die Obst aus Streuobstwiesen als Bio-Qualität annehmen.
Geschichte des Streuobstbaus
Baden-Württemberg ist das Land des Streuobstbaus.
Die Unterscheidung in Streuobst- und Erwerbsobstanlagen ist erst etwa 50 Jahre alt. Zuvor war der Obstbau auf großkronigen Bäumen neben der Spaliererziehung die einzig praktizierte Anbauform. War früher das eigene Obst für die Bürger unabdingbar, um überleben zu können, wird heute bei weitem nicht alles aufgelesen und verwertet. Und während 2018 viele Gütlesbesitzer die große Obstschwemme als Last angesehen haben, waren solche Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg echte „Gewinnjahre”. Zu jener Zeit war es noch möglich, mithilfe des Obstertrages gutes Geld zu verdienen. So manche Scheunen und Häuser hätten ohne den Gewinn aus dem Obstbau nicht gebaut, so manche Maschinen nicht finanziert werden können. Zum Vergleich: Vor etwa 100 Jahren erhielt ein Facharbeiter einen Stundenlohn von 25 bis 35Pfen-
nigen. Der Obstpreis lag aber  bereits damals bei 3,10 bis 5,50 Mark pro Zentner, für besonders gesuchte Obstsorten wie die Champagner Bratbirne wurden bis zu 9,50 Mark für 50 Kilogramm ausbezahlt.
Wer heute die Elterngeneration auf ihre Verbindung zum Obstbau anspricht, erhält sehr unterschiedliche Antworten. Manche erinnern sich an beglückende Erlebnisse mit dem Opa, dem seine Obstbäume ganz besonders am Herzen lagen. Man denkt an Goldparmänen, Rosenäpfel und ans Veredeln oder „Zweien”. Aber andere wissen vor allem von mühsamer Arbeit und einem schmerzenden Rücken zu berichten. Anstelle der früher vorherrschenden Ernährungssicherung stehen für Gütlesbesitzer heute oft ganz andere Aspekte im Vordergrund. Manchmal sind die Obstwiesen nur noch zum Feiern von Festen attraktiv. Oder sie dienen der intensiven Beobachtung von Vögeln mit dem Fernglas. Oder man setzt sich einfach nur so unter einen blühenden Baum und schaut den Bienen und Hummeln bei der Arbeit zu.
All das kann von der sonst so hektischen Betriebsamkeit im Alltag der modernen Menschen eine willkommene Abwechslung bieten. Selbst vordergründig anstrengende Arbeiten wie der Baumschnitt oder das Mähen können nach einem anstrengenden Tag als Ausgleich erlebt werden, wenn man die Sache positiv angeht. Selbst das mühsame Auflesen des Obstes kann gemeinsam mit Kindern und Freunden vor einem genüsslichen Picknick zum familiären Erlebnis werden. Obstwiesen  bieten auch heute Genuss und Erholung. Für die Zukunft des Streuobstbaus ist es wichtig, dass wir umdenken und unsere Sichtweise ändern. Der dem Menschen angeborene Wunsch nach Kontakt mit der Natur, Bewegung und Begegnung kann eine neue Chance für unsere Obstgärten sein.