Tierhaltung | 31. August 2017

Mutterzeit für Milchkühe?

Von Julia Weller, Katharina Zipp, Ute Knierim, Fachgebiet Nutztierethologie und Tierhaltung, Universität Kassel
Wenn die Milchkuh ihr Kalb säugt und trotzdem gemolken wird: Funktioniert das? Das Aufzuchtverfahren „muttergebundene Kälberaufzucht” beweist, dass es durchaus möglich ist.
Kuh und Kalb vereint. Bei der muttergebundenen Kälberaufzucht verbleibt das Kalb für einige Wochen bei seiner Mutter, diese wird zusätzlich gemolken.
Bei muttergebundener Kälberaufzucht handelt es sich um ein Aufzuchtverfahren für Kälber, bei dem die Milchkühe ihre eigenen Kälber bis zu drei Monate säugen und trotzdem gemolken werden. Teilweise werden die Kälber nach einer bis vier Wochen bei der Mutter an eine Amme gewöhnt, die Mutter wird nur noch gemolken.
Verschiedene Systeme
Grundsätzlich lassen sich drei Systeme unterscheiden:
  • Freier Kontakt: Kuh und Kalb haben ganztägig uneingeschränkten Zugang im Kuhstall zueinander. Lediglich zum Melken werden sie getrennt.
  • Halbtagskontakt: Dabei haben Kuh und Kalb am Tag oder in der Nacht Kontakt zueinander. Bei freiem und halbtägigem Kontakt müssen Vorkehrungen getroffen werden, dass die Kälber nicht in den Güllekanal fallen können. Außerdem ist ein Kälberschlupf, in dem die Kälber Futter, Wasser und einen Rückzugsraum finden, von Vorteil.
  • Begrenzter Kontakt: Von begrenztem Kontakt wird gesprochen, wenn sich Kuh und Kalb ein- bis zweimal täglich für 15 bis 60 Minuten, zum Beispiel im Warte- oder Laufhof, treffen. Die Häufigkeit und Dauer des Zusammentreffens werden dabei an das Alter der Kälber angepasst.
Vorteile des Aufzuchtverfahrens
Vor allem Biobetriebe entscheiden sich für die muttergebundene Kälberaufzucht, da die EU-Öko-Verordnung ohnehin mindestens für die ersten zwölf Lebenswochen das Angebot natürlicher Milch vorschreibt. Aber auch konventionelle Betriebe zeigen zunehmend Interesse, vor allem aus Tierwohlgründen.
Bei längerem Kuh-Kalb-Kontakt können die Tiere ihr natürliches Mutter-Kind-Verhalten ausleben. Auch wird das Saugbedürfnis der Kälber am zuverlässigsten gestillt, weshalb es in diesem Aufzuchtverfahren selten zu gegenseitigem Besaugen kommt. Realisierbar ist das Aufzuchtverfahren dabei in allen Stallsystemen, vorausgesetzt, die Einrichtung ist „kälbersicher”. Auch Boxenlaufställe und Ställe mit Automatischen Melksystemen eigenen sich gut.
Zudem wird bei der muttergebundenen Kälberhaltung die Entwicklung der Kälber positiv beeinflusst, was sich, wie bei der ad-libitum-Fütterung, in hohen Tageszunahmen äußert. Durch den Kontakt mit älteren Tieren erfahren die Kälber eine Art Erziehung. Dies hat eine langfristige Wirkung und könnte insgesamt zu einer ruhigeren Herde führen. Beispielsweise gibt es Hinweise darauf, dass Färsen, die als Kalb Mutterkontakt hatten, bei der Eingliederung in die Milchviehherde weniger gestresst sind. Problematisch sind bei diesem Aufzuchtsystem allerdings die durch das Säugen entstehenden Milcheinbußen sowie der größere Trennungsstress. Weiterhin gibt es Befürchtungen, dass sich die Eutergesundheit verschlechtern könnte, was aber in verschiedenen Untersuchungen nicht bestätigt wurde. Wichtig ist zudem, sich auch bei der muttergebundenen Kälberaufzucht Zeit für den Umgang mit den Kälbern zu nehmen, da sie sonst scheu werden.
Mittel gegen Trennungsschmerz
Saugentwöhner, sogenannte „Nose-Flaps”, werden in die Kälbernase geklemmt und hängen bei einem Saugversuch zwischen Kälbermaul und Zitze. So können die Kälber nicht saugen, die Festfutter- und Wasseraufnahme ist aber weiterhin möglich.
Um Gebrüll und Unruhe bei der Trennung zu reduzieren, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wichtig ist dabei immer, dass zunächst noch Körperkontakt ermöglicht wird und die dem Kalb verfügbare Milchmenge langsam reduziert wird. Eine Möglichkeit ist die Trennung durch ein Gitter, durch das sich Kuh und Kalb aber noch berühren können. Alternativ kann den Kälbern ein „Saugentwöhner” in die Nase geklemmt werden, der das Saugen am Euter verhindert. Die Tiere können jedoch wie gewohnt in der Herde bleiben und damit Futter und Wasser aufnehmen.
Die allmähliche Reduzierung der Milchmenge kann durch eingeschränkten Kontakt oder eine Umstellung auf Eimer- bzw. Automatentränke stattfinden. Bei einer Trennung durch  Gitter kann das Kalb anfangs noch seinen Kopf durch Öffnungen im Gitter strecken und so an seiner Mutter saugen. Schrittweise werden die Öffnungen  dann für immer längere Zeit verschlossen, bis sie schließlich ständig geschlossen bleiben.
Im Fall des begrenzten Kontakts in Kombination mit Ammenhaltung saugen mehrere Kälber an einer Kuh, zum Beispiel vor oder nach dem Melken. Die Kälber, die abgesetzt werden sollen, werden zur Reduktion der Tränkemenge erst später zur Kuh gelassen, wenn die anderen Kälber schon einen Teil der Milch getrunken haben. Nach etwa einer Woche dürfen sie dann nur noch einmal am Tag zum Säugen und nach einer weiteren Woche gar nicht mehr. Es wurde gezeigt, dass Kälber, die so entwöhnt wurden, weniger Stressanzeichen zeigen als bei abruptem Absetzen.
Milcheinbußen begrenzen
Auch Weidegang ist bei der muttergebundenen Aufzucht möglich. Hierfür müssen die Zäune jedoch gesichert werden, damit die Kälber nicht ausbrechen können.
Häufig treten bei Kühen, die ihr Kalb säugen, Milchabgabestörungen beim Melken auf. Es gibt aber Hinweise darauf, dass eine Reduktion des Kuh-Kalb-Kontaktes die Milchabgabe verbessern könnte. Beim begrenzten Kontakt verbringt das Kalb nur wenig Zeit mit der Mutter und anderen Herdenmitgliedern.
Ein Kompromiss zwischen freiem und begrenztem Kontakt ist der Halbtagskontakt. Die Auswirkungen auf Milchleistung, Milchinhaltsstoffe, Eutergesundheit und Kälberentwicklung wurden in einem Versuch der Universität Kassel im Vergleich zwischen freiem, halbtägigem (hier von 6.15 bis 17.30 Uhr) und keinem Kuh-Kalb-Kontakt untersucht.
Tatsächlich hatten die Kühe mit Kalbkontakt während der neunwöchigen Kontaktphase nach der Geburt geringere Milchleistungen als Kühe ohne Kalbkontakt. Tiere mit Halbtagskontakt gaben circa 10 kg weniger Milch als Kühe ohne Kalbkontakt, was mit dem Milchverlust bei begrenztem Kontakt vergleichbar ist. Bei Kühen mit freiem Kontakt lag der Unterschied bei circa –13,5 kg.
Auffallend war, dass der Milchfettgehalt bei Kühen mit Kalbkontakt während der Kontaktphase um etwa ein Prozent geringer war als der von Kühen ohne Kalbkontakt. Dies weist auf Milchabgabestörungen hin. Nach der Trennung von Kühen und Kälbern normalisierte sich der Fettgehalt wieder. Bei saisonaler Abkalbung in Kombination mit Vermarktung an die Molkerei kann jedoch eine Reduktion des Tankmilch-Fettgehalts zum Problem werden.
Ein Einfluss auf die Eutergesundheit konnte während des gesamten Versuches nicht festgestellt werden. Weder die Zellzahlen noch die Häufigkeiten von Euterentzündungen unterschieden sich bei den Versuchsgruppen.
Bessere Kälberentwicklung
Nach der endgültigen Trennung stiegen die Milchleistungen bei den Kontaktkühen wieder an. Über die Gesamtlaktation gesehen gaben die Kühe mit freiem Kalbkontakt jedoch eine geringere Milchmenge als „Halbtagskühe” und Kühe ohne Kontakt. Der Gesamtmilchverlust bei den Halbtagskühen entsprach rechnerisch einer Tränkemenge von 8,7 l/Tag in den ersten neun Wochen. Dies entspricht in etwa den aktuellen Empfehlungen, deutlich mehr als 6 l/Tag und besser Vollmilch statt Milchaustauscher zu vertränken.
Des Weiteren bestätigte die Studie, dass sich die Kälberentwicklung durch muttergebundene Aufzucht verbessern lässt. Die Versuchskälber aus freiem (120,5 kg) und Halbtagskontakt (128,0 kg) wogen zwei Wochen nach dem Absetzen immer noch mehr als Kälber ohne Mutterkontakt (109,3 kg), und das trotz Wachstumseinbruch nach der Trennung von der Mutter. Während der Kontaktphase sind die Zunahmen bei allen Formen der muttergebundenen Kälberaufzucht ähnlich gut, solange nicht mehrere Kälber an einer Amme trinken. Eine Verbesserung der Festfutteraufnahme der Kälber könnte helfen, Wachstumseinbrüche zu vermindern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die muttergebundene Kälberaufzucht ein naturnahes Aufzuchtverfahren für Kälber ist, welches einige Vorteile, aber auch Herausforderungen mit sich bringt. Die Kälber wachsen schnell, werden durch erwachsene Tiere erzogen und Kuh und Kalb können ihr natürliches Verhalten ausleben. Verschiedene Lösungen, um den Trennungsschmerz zu mindern, sind vorhanden. Milchverluste können durch einen nur halbtägigen Kontakt reduziert werden, der Mutter und Kalb dennoch erlaubt, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Allerdings sollte für eine gute Festfutteraufnahme der Kälber gesorgt werden, um Wachstumseinbrüche zu vermindern und ihnen so eine bestmögliche Entwicklung zu ermöglichen.