Tierhaltung | 11. Januar 2022

Milchvieh: Zucht der Zukunft

Von Maria Wehrle
Viele Kritikpunkte an der Tierhaltung beziehen sich auf die Zucht. Darauf haben fünf Wissenschaftler reagiert und Stellung bezogen – mit konkreten Vorschlägen auch für die Rinderzucht. Einer davon soll sowohl das Problem der Bullenkälber als auch der kurzen Nutzungsdauer lösen.
Die Nachzucht in den Startlöchern: Färsen bringen zwar vielversprechenden Zuchtfortschritt, konkurrieren aber auch mit Altkühen um Stallplätze. Häufig fällt die Entscheidung zu Gunsten der jungen Generation. Die Folge: eine kürzere Nutzungsdauer.
„Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierte Tierzucht”, so lautet der Titel einer Stellungnahme von fünf Wissenschaftlern aus dem Bereich Tierzucht.  Einer der Autoren, Prof. Jörn Bennewitz vom Institut für Tierwissenschaften an der Universität Hoheheim, präsentierte bei  einer Online-Tagung des Landesarbeitskreises Fütterung (LAF) Baden-Württemberg Mitte Dezember die Optionen für den Rinderbereich.
Kritik ernst nehmen
Die Tierzucht hat sich in eine unnatürliche und für die Tiere schädliche Richtung entwickelt. Das ist laut Bennewitz einer der wichtigsten Kritikpunkte der Gesellschaft an der Nutztierhaltung. Trotzdem spielt die Zucht zum Beispiel in den Ausführungen der Borchertkommission zum Umbau der Nutztierhaltung nur eine geringe oder keine Rolle. Deshalb sieht Bennewitz als einzigen Ausweg die Flucht nach vorne. Allerdings reichen dafür   seiner Meinung nach die Imagekampagnen der Branche nicht aus – selbst, wenn sie ehrlich und gut gemacht sind. „Wir müssen die Massenmedien auf unsere Seite bringen”, erklärt er. Und dazu sei es notwendig, die Kritik ernst zu nehmen und entsprechende Veränderungen umzusetzen. 
Die Ansätze der Wissenschaftler
Wie das für die Milchviehzucht konkret aussehen kann, dazu hat sich Bennewitz zusammen mit vier Kollegen von anderen Universitäten und Forschungseinrichtungen Gedanken gemacht:
  • Im Gesamtzuchtwert müssen die Gesundheits- und Fittnessmerkmale noch stärker berücksichtigt werden. Der Anteil der Milchleistung mit 36 % in der Holsteinzucht sind noch zu hoch.
  • Die Zucht sollte sich mehr auf die Merkmale Funktionalität, Resilienz und Robustheit konzentrieren. Bennewitz definiert Robustheit als die Fähigkeit einer Kuh auch unter ungünstigen Umweltbedingungen ihre Leistung aufrechtzuerhalten. Resilienz heißt: Eine Kuh erreicht nach einer kurzfristigen, exogenen Störung, wie zum Beispiel Krankheit oder Hitzperioden, schnell wieder ihre Ausgangsleistung. Das sei wichtig, damit die Tiere nicht zu stark auf schwankende Umwelteinflüsse reagieren. Vor allem wenn zukünftig die Weidehaltung vorherrschende Haltungsform sein soll, gewinne dieser Aspekt an Bedeutung.
  • Das Exterieur hat eine relativ hohe Erblichkeit. Gerade deshalb sollten die Zuchtverbände diesen Merkmalskomplex nutzen, um die Nutzungsdauer zu verbessern. Laut Bennewitz ist nur ein kleiner Teil der Tierhalter an Schaukühen interessiert, die von der Gesellschaft ohnehin abgelehnt werden.
  • Damit ist man dem Wissenschaftler zufolge bei einem der Hauptkritikpunkte der Verbraucherinnen und Verbraucher angekommen: der zu kurzen Nutzungsdauer. Dabei habe es hier schon einen deutlichen Zuchtforschritt gegeben. Knackpunkt sei jeodch die  zu große Anzahl an weiblichen Nachkommen, die zu Konkurrenz um begrenzte Stallplätze führt. Vielversprechende Färsen drängen Altkühe aus dem Stall, obwohl diese aus gesundheitlicher Sicht noch bleiben könnten. Einzige Lösung nach Meinung der Wissenschaftler ist eine verlängerte Zwischenkalbezeit (ZKZ). Als Ziel nennt Bennewitz eine 500-Tage-Laktation. Dafür ist es wichtig in Richtung Persistenz zu züchten. Das heißt, die Fähigkeit einer Kuh zu verbessern, auch in einem späteren Laktationsstadium noch ausreichend Milch zu geben.
  • Eine bessere Persistenz und damit eine verlängerte ZKZ sei auch die einzige wirkliche Möglichkeit das Problem der männlichen Kälber zu lösen, meint Bennewitz. Denn der Grund für die schlechten Vermarktungmöglichkeiten sei nicht unbedingt die Mastleistung von Holsteinbullenkälber, sondern schlicht die Tatsache, dass das Angebot die Nachfrage deutlich übersteigt.
  • Die Züchterinnen und Züchter sollten auf extreme Merkmalsausprägungen verzichten, wie etwa die Ausbildung von Doppellenden bei der Rasse Weiß-Blauer-Belgier – auch bei Gebrauchskreuzungen. Die Reinzucht dieser Rasse ist in Deutschland verboten, sodass man sich mit dem Sperma dieser Tiere auch das Tierschutzproblem ins Land hole.
  • Erbfehler, die von einem einzigen Gen verursacht werden – sogenannte monogene Erbfehler – müssen weiterhin effizient aufgedeckt werden. Hier lobte Bennewitz die Arbeit der Zuchtunternehmen.
  • Die Zucht der kleinen Rassen sollte man nicht aus den Augen verlieren. Durch den großen Zuchtfortschritt gibt es einen Trend zu wenigen Spezialrassen. Das erzeugt Druck auf kleinen Populationen, zu denen beispielsweise auch Vorder- und Hinterwälder zählen. Hier müsse den Wissenschaftlern zufolge mehr Fördergeld fließen.
Finanzierung berücksichtigen
Jörn Bennewitz räumte abschließend ein, dass all diese Vorschläge negative ökonomische Konsequenzen hätten. Diese müssten beim Umbau der Tierhaltung berücksichtigt werden, was derzeit noch nicht der Fall sei. Vor allem die jüngere Generation in den Zuchtverbänden würde ihm in diesem Punkt zustimmen, während andere den Vorschlägen der Wissenschaftler sehr kritisch gegenüberstünden. 
Leitlinien der Stellungnahme
  • Die Nutztierhaltung muss sich langfristig so entwickeln, dass die Umwandlung von Biomasse in tierische Produkte effizienter wird.
  • Die negativen Folgen für Klima und Umwelt müssen reduziert werden.
  • Die Nahrungsmittelkonkurrenz zwischen Mensch und Tier muss minimiert werden.
  • Die genetische Diversität muss erhalten bleiben und
  • das Tierwohl muss verbessert werden.