Nicht nur Mädchen, auch Jungen hungern
Von Silke Bromm-Krieger
„Magersucht ist nicht nur ein Problem von Mädchen”, weiß Diplompsychologin Renate Kühl. Sie behandelt immer wieder auch Jungen im Alter von acht bis 18 Jahren, die an Essstörungen leiden. Ihnen fällt es oft schwerer, über ihr Leiden zu sprechen.
Lukas (Name von der Redaktion geändert) ist 13 Jahre alt. Seine Eltern haben sich getrennt. Der Schüler lebt nach der Scheidung bei der Mutter. Bei den regelmäßigen Besuchskontakten fällt dem Vater auf, dass sein Sohn immer mehr an Gewicht verliert. Er macht sich Sorgen und schaltet das Jugendamt ein. Das Jugendamt wendet sich an das Gesundheitsamt. Das Gesundheitsamt spricht mit Lukas’ Mutter. Daraufhin wird Lukas bei Renate Kühl vorgestellt.
Marcel (Name von der Redaktion geändert) ist 14 Jahre alt. Sein Sportlehrer bemerkt, dass der Jugendliche in letzter Zeit sehr abgemagert ist. „Den mag ich kaum noch Fußball spielen lassen”, sagt er besorgt zum Klassenlehrer des Jungen. Dieser redet mit den Eltern und rät zu einem Termin in einer jugendpsychiatrischen Ambulanz.
Der Körper als Ausdrucksmittel
Von Magersucht können auch Jungen oder junge Männer betroffen sein. Bei ihnen ist das Krankheitsbild oft sogar stärker ausgeprägt.
Zwei Beispiele aus der Praxis, die
zeigen, dass das Phänomen Magersucht nicht nur das weibliche Geschlecht
betrifft. „Jungen sind genauso betroffen, wenn auch in der Minderzahl.
Auf zehn bis 20 Mädchen kommt etwa ein Junge”, informiert Kühl. Meist
seien es Lehrer, Ärzte oder Ämter, die Alarm schlagen, wenn ein Kind
plötzlich rapide abnimmt. „Nur selten suchen Eltern direkt Hilfe”,
stellt die Diplompsychologin heraus. Zu groß sei vermutlich die Scham,
sich einzugestehen, dass eventuell familiäre Probleme hinter der
Magersucht stecken könnten. Die Fachfrau weiß aus ihrer langjährigen
Berufserfahrung: „Es muss schon ein ganzes Bündel von ungünstigen
Faktoren zusammenkommen, damit ein Junge oder ein Mädchen an Magersucht
erkrankt.” Dabei hat sie folgende Beobachtung gemacht: „Wenn es einen
Jungen erwischt, ist das Krankheitsbild meist stärker ausgeprägt als bei
den weiblichen Patienten.” Die Behandlung ist nicht selten mit langen
stationären Aufenthalten verbunden. Jungen sprechen nur ungern über die
Erkrankung, verleugnen sie und sind oft wenig bereit, sich für eine
Therapie zu öffnen und eigene Schwächen preiszugeben. Sie unterdrücken
die eigenen Gefühle. „Ihren Stolz zu durchbrechen, ist nicht einfach”,
so Kühl.
Die Gründe für das Entstehen einer Magersucht sind
vielschichtig und individuell. Magersucht ist eine Seelenkrankheit, die
den Körper als Ausdrucksmittel nutzt. Die Erkrankten haben in der Regel
wenig Selbstbewusstsein, psychologische Probleme und Angst vor dem
Erwachsenwerden. Auch Jungen stehen heutzutage unter dem enormen Druck,
schlank, muskulös und athletisch zu sein. Sie eifern diesem
Schönheitsideal durch übertriebene sportliche Aktivitäten und Diäten
nach. In einer Welt voller Unsicherheit verspricht die absolute
Kontrolle über den eigenen Körper Stabilität und Halt. „Fatal ist, dass
sich in der Anfangsphase der Gewichtsabnahme das soziale Umfeld meist
zunächst lobend über die Gewichtsreduktion äußert. Vielfach fördern
Verwandte und Freunde dadurch ungewollt den schädlichen Körperkult”,
gibt Kühl zu bedenken. Ob eine ambulante oder stationäre Behandlung der
Erkrankung angezeigt ist, hängt vom Grad des Gewichtsverlustes ab.
Sucht bleibt ein Leben lang
Ist er lebensbedrohlich, muss ein stationärer
Klinikaufenthalt erfolgen, um zunächst die körperliche Konstitution zu
stärken. So komplex wie das Krankheitsbild sind die dann folgenden
Behandlungsstrategien: Verhaltentherapeutische und/ oder
tiefenpsychologische Techniken kommen in Einzelgesprächen und
Gruppenangeboten zum Einsatz.
Und wie sieht es mit den
Erfolgsaussichten der Behandlung aus? Die Therapeutin ist ehrlich:
„Magersucht ist eine Suchtkrankheit. Man bleibt auch nach einer
abgeschlossenen Behandlung ein Leben lang magersüchtig.” Ein Drittel der
Patienten werde wieder ganz gesund, bei einem Drittel bleibe das
Krankheitsbild bestehen, ein Drittel sei „Grauzone”. Die Betroffenen
sind vom Gewicht her zwar augenscheinlich gesund, leiden aber weiterhin
unter psychischen Problemen und Essenskonflikten. „Wichtig ist, sich bei
einer möglichen Magersucht schnell um eine professionelle Hilfe zu
bemühen. Je schneller dies geschieht, desto besser stehen die Chancen,
die Erkrankung zu überwinden”, betont Kühl.