Land und Leute | 09. Mai 2014

Nicht nur Mädchen, auch Jungen hungern

Von Silke Bromm-Krieger
„Magersucht ist nicht nur ein Problem von Mädchen”, weiß Diplompsychologin Renate Kühl. Sie behandelt immer wieder auch Jungen im Alter von acht bis 18 Jahren, die an Essstörungen leiden. Ihnen fällt es oft schwerer, über ihr Leiden zu sprechen.
Lukas (Name von der Redaktion geändert) ist 13 Jahre alt. Seine Eltern haben sich getrennt. Der Schüler lebt nach der Scheidung bei der Mutter. Bei den regelmäßigen Besuchskontakten fällt dem Vater auf, dass sein Sohn immer mehr an Gewicht verliert. Er macht sich Sorgen und schaltet das Jugendamt ein. Das Jugendamt wendet sich an das Gesundheitsamt. Das Gesundheitsamt spricht mit Lukas’ Mutter. Daraufhin wird Lukas bei Renate Kühl vorgestellt.
Marcel (Name von der Redaktion geändert) ist 14 Jahre alt. Sein Sportlehrer bemerkt, dass der Jugendliche in letzter Zeit sehr abgemagert ist. „Den mag ich kaum noch Fußball spielen lassen”, sagt er besorgt zum Klassenlehrer des Jungen. Dieser redet mit den Eltern und rät zu einem Termin in einer jugendpsychiatrischen Ambulanz.
Der Körper als Ausdrucksmittel
Von Magersucht können auch Jungen oder junge Männer betroffen sein. Bei ihnen ist das Krankheitsbild oft sogar stärker ausgeprägt.
Zwei Beispiele aus der Praxis, die zeigen, dass das Phänomen Magersucht nicht nur das weibliche Geschlecht betrifft. „Jungen sind genauso betroffen, wenn auch in der Minderzahl. Auf zehn bis 20 Mädchen kommt etwa ein Junge”, informiert  Kühl. Meist seien es Lehrer, Ärzte oder Ämter, die Alarm schlagen, wenn ein Kind plötzlich rapide abnimmt. „Nur selten suchen Eltern direkt Hilfe”, stellt die Diplompsychologin heraus. Zu groß sei vermutlich die Scham, sich einzugestehen, dass eventuell familiäre Probleme hinter der Magersucht stecken könnten. Die Fachfrau weiß aus ihrer langjährigen Berufserfahrung: „Es muss schon ein ganzes Bündel von ungünstigen Faktoren zusammenkommen, damit ein Junge oder ein Mädchen an Magersucht erkrankt.” Dabei hat sie folgende Beobachtung gemacht: „Wenn es einen Jungen erwischt, ist das Krankheitsbild meist stärker ausgeprägt als bei den weiblichen Patienten.” Die Behandlung ist nicht selten mit langen stationären Aufenthalten verbunden. Jungen sprechen nur ungern über die Erkrankung, verleugnen sie und sind oft wenig bereit, sich für eine Therapie zu öffnen und eigene Schwächen preiszugeben. Sie unterdrücken die eigenen Gefühle. „Ihren Stolz zu durchbrechen, ist nicht einfach”, so Kühl.
Die Gründe für das Entstehen einer Magersucht sind vielschichtig und individuell. Magersucht ist eine Seelenkrankheit, die den Körper als Ausdrucksmittel nutzt. Die Erkrankten haben in der Regel wenig Selbstbewusstsein, psychologische Probleme und Angst vor dem Erwachsenwerden. Auch Jungen stehen heutzutage unter dem enormen Druck, schlank, muskulös und athletisch zu sein. Sie eifern diesem Schönheitsideal durch übertriebene sportliche Aktivitäten und Diäten nach. In einer Welt voller Unsicherheit verspricht die absolute Kontrolle über den eigenen Körper Stabilität und Halt. „Fatal ist, dass sich in der Anfangsphase der Gewichtsabnahme das soziale Umfeld meist zunächst lobend über die Gewichtsreduktion äußert. Vielfach fördern Verwandte und Freunde dadurch ungewollt den schädlichen Körperkult”, gibt Kühl zu bedenken. Ob eine ambulante oder stationäre Behandlung der Erkrankung angezeigt ist, hängt vom Grad des Gewichtsverlustes ab.
Sucht bleibt ein Leben lang
Ist er lebensbedrohlich, muss ein stationärer Klinikaufenthalt erfolgen, um zunächst die körperliche Konstitution zu stärken. So komplex wie das Krankheitsbild sind die dann folgenden Behandlungsstrategien: Verhaltentherapeutische und/ oder tiefenpsychologische Techniken kommen in Einzelgesprächen und Gruppenangeboten zum Einsatz.  
Und wie sieht es mit den Erfolgsaussichten der Behandlung aus? Die Therapeutin ist ehrlich: „Magersucht ist eine Suchtkrankheit. Man bleibt auch nach einer abgeschlossenen Behandlung ein Leben lang magersüchtig.” Ein Drittel der Patienten werde wieder ganz gesund, bei einem Drittel bleibe das Krankheitsbild bestehen, ein Drittel sei „Grauzone”. Die Betroffenen sind vom Gewicht her zwar augenscheinlich gesund, leiden aber weiterhin unter psychischen Problemen und Essenskonflikten. „Wichtig ist, sich bei einer möglichen Magersucht schnell um eine professionelle Hilfe zu bemühen. Je schneller dies geschieht, desto besser stehen die Chancen, die Erkrankung zu überwinden”, betont Kühl.