Land und Leute | 17. November 2016

Künftig keine Minutenzählerei mehr

Von Birgitta Klemmer
Bei der Pflegeversicherung stehen ab Januar Änderungen an: Bislang war der Hilfebedarf eines Menschen in Minuten für die Einstufung in Pflegestufen maßgeblich. Künftig ist ausschlaggebend, wie selbstständig ein Mensch zugange ist. Auch die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz werden berücksichtigt.
Die Neuerungen des Pflegestärkungsgesetzes stellte Wendelin Schuler von der Beratungsstelle für ältere Menschen und deren Angehörige im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald bei der Verbandsversammlung der Landfrauen  Südbaden im Kurhaus Titisee vor. Die Änderungen treten zum 1. Januar in Kraft.
Was kann ein Mensch selbstständig, wobei wird Hilfe benötigt? Entsprechend erfolgt die Einstufung in einen Pflegegrad.
Herzstück der Reform sei der neue Begriff der Pflegebedürftigkeit, der geistige Erkrankungen mehr in den Vordergrund rücke, so Schuler: „Bisher wurden hauptsächlich körperliche Komponenten betrachtet, künftig werden bei der Einteilung in eine Pflegestufe körperliche, geistige und psychische Einschränkungen gleichermaßen erfasst und einbezogen.”
Ferner gibt es statt drei Pflegestufen fünf Pflegegrade und die Einstufung erfolgt nicht mehr danach, wie lange jemand bei Verrichtungen des Alltags wie etwa Waschen oder Anziehen Hilfe braucht, sondern danach, wie selbstständig jemand noch ist.  Wichtig ist: Bereits pflegebedürftige Menschen werden automatisch von der bestehenden Pflegestufe in den gesetzlich vorgesehenen Pflegegrad eingestuft. Hierfür ist weder ein Antrag noch eine erneute Begutachtung erforderlich. Alle Pflegebedürftigen erhalten Ende des Jahres von ihrer Pflegekasse eine Mitteilung über ihren zukünftigen Pflegegrad. Großzügige gesetzliche Überleitungs- beziehungsweise Besitzstandsschutzregelungen sollen dafür sorgen, dass kein Pflegebedürftiger schlechter gestellt  wird. 
Wie selbstständig ist ein Mensch?
Schuler erläuterte, wie ab Januar die Einstufung erfolgt: Anhand eines ausgeklügelten Punktesystems entscheiden die Gutachter des Medizinischen Dienstes, in welchen der fünf Pflegegrade jemand kommt. Die Begutachtung misst den Grad der Selbstständigkeit in sechs unterschiedlich gewichteten Bereichen: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen sowie die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. 
Die sechs Module sind in weitere Einzelaspekte unterteilt. Die Gutachter prüfen, wie selbstständig ein Mensch bei jedem einzelnen Aspekt der sechs Module ist, und vergeben Punkte. Es wird beispielsweise geschaut, wie selbstständig sich jemand fortbewegen kann, ob jemand selbst Entscheidungen treffen oder Gespräche führen kann, inwieweit jemand bei der Körperpflege oder beim Essen Hilfe braucht oder ob jemand seine Zeit selbst einteilen und Kontakte pflegen kann.
Je höher die Punktanzahl, umso höher ist der Grad, in den eine pflegebedürftige Person eingruppiert wird. Aus dem festgestellten Grad errechnet sich, welche Leistungen die betreffende Person von der Pflegekasse erhält. Eine Person mit Pflegegrad 5 soll etwa für eine vollstationäre Pflege einen Zuschuss von 2005 Euro erhalten. „Das ist viel Geld”, so Schuler, „ein Pflegeplatz kostet aber derzeit im Schnitt rund 3000 Euro, die Differenz muss aus privaten Mitteln bezahlt werden. Sorgen Sie deshalb vor.”
Schuler empfiehlt, sich gut auf den Besuch des Medizinischen Dienstes vorzubereiten. Wer glaubt, nicht in den richtigen Pflegegrad eingestuft worden zu sein, könne innerhalb eines Monats Widerspruch gegen die Entscheidung der Pflegekasse einlegen. Nach der Sichtung des Widerspruchs entscheidet die Pflegekasse, ob ein neues Gutachten durch den Medizinischen Dienst erfolgen soll.
Zur Finanzierung der Reform steigt der Beitrag zur Pflegeversicherung zum 1. Januar um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent beziehungsweise auf 2,8 Prozent für kinderlose Versicherte.