Land und Leute | 29. Oktober 2015

Integration braucht Zeit, Kontinuität und finanzielle Absicherung

Von Katja Brudermann
Friederike Blum fesselte mit ihrer Präsentation jüngst rund 80 Zuhörerinnen der internationalen Fachtagung „LAND. FRAUEN.ZUKUNFT – Chancen, Ideen, Projekte” in Ravensburg.
Sie stellte das österreichische LEADER-Projekt „drehscheibe. frauen.integration – Migrantinnen in unserer Region” vor.Viele Migrantinnen in Oberösterreich (und nicht nur dort) führen ein fast unsichtbares Leben. In ihren Familien tragen sie die Verantwortung für den Erhalt der kulturellen Werte. Sprachkenntnisse und berufliches Engagement zeigen sich fast ausschließlich bei ihren Ehemännern. Ist dieses zurückgezogene Leben selbst gewählt oder gibt es hierfür handfeste, veränderbare Gründe? Dies herauszufinden war das erste Ziel des Projektes drehscheibe.frauen.integration in der LEADER-Region Oberinnviertel-Mattigtal. Des Weiteren nannte Friederike Blum als ehemalige Geschäftsführerin dieser LEADER-Region die folgenden Ziele:
-Erhebung der subjektiven und objektiven Rahmenbedingungen von Migrantinnen
-Erhebung des Unterstützungsbedarfs der zurückgezogen lebenden Migrantinnen
-Erstellung eines Handlungsleitfadens für die Gemeinden aufgrund des ermittelten Bedarfs
-und – in aller Bescheidenheit – die Integration der isolierten Migrantinnen in die Mitte der Gesellschaft
In der Region Oberinnviertel/ Mättigtal leben insgesamt 82 832 Menschen; rund neun Prozent von ihnen haben eine ausländische Staatsbürgerschaft. Ein nicht unerheblicher Anteil sind Deutsche. Sie verbringen häufig ihre Arbeits- und Freizeit  auf der anderen Seite der nahen deutschen Grenze und zeigen an ihrem Wohnort nur einen mäßigen Integrationswillen. Um sie soll es im Rahmen des LEADER-Projekts jedoch nicht gehen.
Um die Situation und die Bedürfnisse der Migrantinnen zu erheben, wurden sie befragt. Miteinander sprachen zwei Gruppierungen: auf der einen Seite 135 ausgewählte Migrantinnen, die durch einen zurückgezogenen Lebensstil auffielen (oder eben nicht auffielen), auf der anderen Seite ausgebildete Vertrauenspersonen, die den Migrantinnen in ihrer  jeweiligen Muttersprache begegnen konnten. Die Auswertung ermöglichte freilich keine statistisch belegbaren, allgemein gültigen Aussagen, zeichnete aber ein detailliertes und persönliches Bild der einzelnen Frauen, das die Referentin wie folgt darlegte:
Frauen aus verschiedenen Ländern bei der Auftaktveranstaltung „Migrantinnen in unserer Region” in Österreich.
Die Mehrheit jener „unsichtbaren” Migrantinnen stammt aus der Türkei, den ehemaligen Sowjetrepubliken sowie aus Afghanistan, Iran, Irak und Syrien. Die meisten sind nicht erwerbstätig und verfügen über keinen Führerschein. Nur 24 Prozent der Befragten haben einen Schulabschluss, der unserem Abitur vergleichbar ist, oder eine höhere Ausbildung.
Was den Unterstützungsbedarf betrifft, ist die Gesundheit das Thema Nummer eins. 76 Prozent der Befragten wünschten sich hierfür Beratung. Dabei ging es ihnen nicht nur um die eigene Gesundheit. Auch das Wohl ihrer Familie war wichtig, sowohl für körperliche Beschwerden als auch seelische Nöte fehlte ihnen häufig die richtige Ansprechperson. Die persönliche Weiterbildung und berufliche Chancen, Schule und Kindergarten, Ämter und Behördengänge, Familie, Freizeit und Wohnen wurden als weitere Themen mit Unterstützungsbedarf genannt.
Interessant war auch zu hören, aus welchen Gründen die Migrantinnen die  durchaus vorhandenen Beratungsangebote nicht nutzen:
49 Prozent wissen nicht, wo sie die entsprechende Beratung bekommen. 35 Prozent können nicht genügend Deutsch. 25 Prozent wissen nicht, ob und wie sie ein Beratungsangebot ohne Auto erreichen können. Zwölf Prozent haben Angst vor Institutionen – dies sind vor allem jene, die aus Krisengebieten geflohen sind und entsprechend schlechte Erfahrungen gemacht haben. Und einzelne Migrantinnen äußerten  explizit den Wunsch, von Frauen beraten zu werden, und sehr gerne auch von solchen aus dem eigenen Kulturkreis.
Neben so manchen interessanten Prozentzahlen machten die 135 Interviews vor allem eines deutlich: Auch die zurückgezogenen Migrantinnen sind Einzelpersonen mit ihren individuellen Schicksalen, Kompetenzen und Bedürfnissen.
Schule als absolute Autorität
Des Weiteren berichtete Friederike Blum von Interviews mit Verantwortlichen in 37 Gemeinden und mit 125 Personen und Institutionen, die mit Migrantinnen zu tun haben: beispielsweise Schulen und Kindergärten, medizinisches Personal und Behörden. Die Quintessenz dieser Befragungen: Die zurückgezogenen Migrantinnen verursachen keine Probleme. Sie werden nicht kriminell, sie äußern keinen Unmut. So ahnen nur wenige den Bedarf, etwas zur Verbesserung ihrer Lebensumstände zu unternehmen. Nur wenige Gemeinden sahen akuten Handlungsbedarf – mit der Begründung: „Es werden in nächster Zeit noch viele weitere Migranten kommen.” Einzig die Schulen und Kindergärten sahen sich immer wieder mit Problemen konfrontiert. Die Migrantinnen erscheinen nicht bei Elternabenden, bei Gesprächsbedarf fehlen die Deutschkenntnisse. In Gesprächen mit den Migrantinnen kam ein interessanter Aspekt zutage: Viele stammen aus Ländern, in denen die Schule als absolute Autorität gilt. Dass man sich bei Elternabenden, auf Schulfesten oder anderweitigen schulischen Aktionen aktiv beteiligt, ist ihnen vollkommen fremd.
Die Antwort auf die Summe der geführten Interviews war ein Handlungsleitfaden, den alle Gemeinden im Projektgebiet erhielten und der vorerst in sieben Pilotgemeinden umgesetzt wurde. Beratungsangebote wurden geschaffen und/oder angepasst, zum Beispiel in Form von mobilen Beratungsangeboten. Es entwickelten sich viele Ideen, die teils bereits umgesetzt wurden. Im Folgenden einige Beispiele:
-Ausbildung von „Brückenbauerinnen”, die die Migrantinnen zuhause besuchen und Unterstützung anbieten
-Online-Plattform www.wirsinddabei.at. Hier kann ehrenamtliches Engagement angeboten und genutzt werden, sei es privater Sprachunterricht, eine internationale Kaffeestube oder ein gemeinsamer Museumsbesuch
-Gründung von interkulturellen Gärten: Sie verbinden das Bedürfnis der Frauen, etwas für das Wohl ihrer Familie zu tun und dabei Sozialkontakte zu knüpfen
-Konzeptarbeit für Willkommenskulturen in Schulen, Betrieben, Gemeinden: Was kann nach einem persönlichen Händedruck vom Bürgermeister dazu beitragen, dass sich Neuankömmlinge Schritt für Schritt ins Dorfleben integrieren, mit seinem Vereinsleben, den nachbarschaftlichen Kontakten und vielem mehr?
-Interreligiöse Veranstaltungen, Feste, Musik und sportliche Aktivitäten
-Biografiearbeit über erfolgreiche Migrantinnen (Filme, Texte, Vorträge)
-Interkulturelle Elternvereine in Schulen und Kindergärten
Die Referentin schloss ihren Vortrag mit dem Appell auch an die deutsche Kommunalpolitik: „Integration ist ein Prozess! Nachhaltige Prozesse brauchen Zeit, Kontinuität und eine finanzielle Absicherung.”
 
Erfahrungen einzelner
Friederike Blum (li.) bei der Fachtagung „LAND. FRAUEN.ZUKUNFT” in Ravensburg: „Was den Unterstützungsbedarf betrifft, ist die Gesundheit das Thema Nummer eins.”
Friederike Blum beleuchtete die Flüchtlingsthematik, die in den Medien  gerade Hochkonjunktur hat. Für die meisten Zuhörerinnen war dieses Thema wohl interessant, aber doch noch weit weg. Nur einzelne Frauen sind bereits persönlich involviert. Eine von ihnen berichtete, dass sie den Ausbau eines Betriebsgebäudes als Wohn- und Lebensraum für Flüchtlinge plant, inklusive angrenzendem Land für eine selbstversorgende Landwirtschaft. Es war ihr wichtig, weder ihren Ort noch Namen zu nennen – aus Angst vor Sabotage. Eine andere Teilnehmerin berichtete von einer Flüchtlingsfamilie, die in ihren Heimatort kam und ihn kurz darauf wieder verließ, weil das Landleben uninteressant war. Und sie berichtete vom Kampf um den Erhalt einer Werkrealschule im Ort. Gerade im ländlichen Raum, wo die Einwohnerzahlen sinken und die Infrastruktur zu kämpfen hat, sieht sie in den Flüchtlingen auch eine Chance: Sie können dazu beitragen, dass Schulen erhalten werden und das Dorfleben neu auflebt – wenn es gelingt, sie gut willkommen zu heißen und in die Dorfstrukturen zu integrieren.