Tierhaltung | 18. Juni 2021

Kann sich lohnen: kuhgebundene Kälberaufzucht

Von Heinrich von Kobylinski
Die kuhgebundene Kälberaufzucht findet unter Milchviehhaltern zunehmend Beachtung – gerade auch mit Blick auf die Vermarktung. Das Emmendinger Kompetenzzentrum für Ökologischen Landbau (KÖLBW) organisierte kürzlich dazu eine Online-Veranstaltung.
Der Kontakt zur Mutter fördert die Gesundheit des Kalbes.
Schnell zeigte sich, dass die kuhgebundene Kälberaufzucht eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen aufweist, mit stark voneinander abweichenden Ansprüchen an Stallbau, Arbeitsaufwand und Milcheinsatz. Es sind vor allem die Biobetriebe, für die diese Aufzuchtart infrage kommt, zumal bei dieser Erzeugungsrichtung ohnehin keine Milchaustauscher Verwendung finden. Deutlich wurde, dass der angestrebte enge Kontakt zur Mutterkuh und der Verzicht auf die Eimertränke erhebliche Veränderungen in der Betriebsorganisation erfordert. Meist steigt der Platzbedarf. Je länger auf die Eimertränke verzichtet wird, um so sorgfältiger muss die Tierbeobachtung sein, um mögliche Mangelsituationen beim Kalb feststellen zu können. Es herrscht Ungewissheit darüber, wie viel das Kalb täglich zu sich nimmt.
Ammen einsetzen
Andererseits kann die Mutterkuh meist viel mehr Milch zur Verfügung stellen, als ein einzelnes Kalb trinken kann. Man sollte deshalb insbesondere den Luxuskonsum beim Kalb vermeiden und an den Umfang der Verkaufsmilch denken. Die Betriebsorganisation sollte dafür sorgen, dass die Euter der kälberführenden Kühe regelmäßig geleert werden, auch aus gesundheitlichen Gründen. Ein erheblicher Teil der Landwirtinnen und Landwirte mit kuhgebundener Kälberaufzucht führt deshalb die Mutterkühe nach drei bis vier Tagen wieder der Herde und dem Melkstand zu. Das Kalb kommt dann in einer gesonderten Bucht zur Amme, wo es gemeinsam mit zwei weiteren Kälbern genährt wird, oft über sechs Wochen. Erst danach wird die Amme durch die Eimertränke ersetzt, bis das Kalb 125 Kilogramm Lebendgewicht (LG) erreicht hat, etwa nach der zwölften Woche.

Gesündere Kälber
Anna Bieber vom Forschungsinstitut für Biologischen Landbau verwies hierzu auf die Verhältnisse bei halbwilden Rinderherden und bei Mutterkuhherden, bei denen ein intensives Ausleben der Kuh-Kalb-Beziehung stattfindet. Nach Beobachtung der Schweizer Nutztierforscherin gibt es in diesen Herden eine zügige Festigung des Sozialverhaltens ebenso wie auch eine stabilere Gesundheitsentwicklung. Gleich nach der Geburt beginne ein zunehmend enger Kontakt zwischen Mutter und Kalb, der durch das Trockenlecken, den baldigen Euterkontakt und die Biestmilch induziert wird. Geruch und Berührung sorgen für eine weitere psychische und körperliche Festigung, auch bei der Mutter. Laut Bieber ist die Befürchtung unbegründet, dass der enge Kontakt zwischen Mutter und Kalb das Infektionsrisiko steigert. Sie verwies auf Untersuchungen, die bei kuhgebundener Kälberaufzucht tendenziell weniger Durchfall und weniger Atemwegserkrankungen feststellten. Zu der höheren allgemeinen Vitalität käme ein ausgeprägteres Spielverhalten in der Kälbergruppe und die schnellere Aufnahme von Weidegras oder Heu.
Bei den Verbrauchern stößt die kuhgebundene Kälberaufzucht auf viel Sympathie. In der Bio-branche wächst daher die Hoffnung auf weitere, konkrete Vermarktungsvorteile sowohl bei den Milchpreisen als auch bei der Fleischerzeugung und den Preisen für männliche Kälber. Bisher müssen in Baden-Württemberg 60 Prozent der Biokälber ohne Bioaufschlag im konventionellen Bereich vermarktet werden, so Dr. Juliane Dentler von der Universität Hohenheim. Mit der Kombination aus kuhgebundener Kälberaufzucht und dem Bioweiderind-Programm könnte diese verlustträchtige Tendenz vermindert werden.
Ein Praktiker berichtet
Demeter-Landwirt Hubert Blank aus Wolfegg verwies auf die Vorteile der Zweinutzungsrassen: Der Halter von 82 Braunvieh-Milchkühen ist Mitglied einer Interessensgemeinschaft für kuhgebundene Kälberaufzucht mit einem gemeinsamen Absatzkonzept. Zentraler Bestandteil davon ist ein eigenes Produktsiegel, das die Erzeugnisse für die Konsumenten erkennbar macht.  Die Statuten der IG fordern von ihren Mitgliedern die kuhgebundene Aufzucht von Geburt an und für die Dauer von mindestens 90 Tagen. Die Ammenkuhhaltung darf frühestens ab der dritten Lebenswoche beginnen. Darauf aber zielt Blank nicht ab:  Er kann Weidehaltung ebenso anbieten wie einen Melkroboter. Damit entfallen für seine 82 Milchkühe die festen Melkzeiten. Bis zum Absetzen führen die Kühe meist nur ein, maximal zwei Kälber. Was der Nachwuchs nicht trinkt, kommt in den Roboter. Der Betrieb bietet ein großzügiges Platzangebot und einen ausgeklügelten, tageszeitlichen Kontaktrhythmus. Die Kälber werden in Gruppen gehalten. Zweimal täglich werden die Mütter über mehrere Stunden zu den Kälbern gelassen. Dafür gibt es einen Begegnungsbereich, wenn Weidebetrieb gerade nicht möglich ist. Blank schätzt, dass er in den ersten drei Monaten mit seinem System 20 Prozent mehr Milch im Vergleich zur Eimertränke verbraucht. Hinzu kommt zweimal täglich die Arbeit für das Trennen der Kälber. Blank beansprucht deshalb für seine Bioverkaufsmilch einen Aufschlag von drei bis vier Cent je Liter.
Seit 2018, dem Einführungsjahr seines Systems, ist bei Blank das Problem des gegenseitigen Kälberbesaugens verschwunden. Nachteil ist dafür jetzt der Trennungsschmerz zwischen Kuh und Kalb beim Absetzen. Nur durch eine schrittweise Kontaktreduzierung kann hier eine Milderung erreicht werden. Nach dem Absetzen bekommen die Kuhkälber nur noch Festfutter. Für die Bullenkälber steht nach dem Absetzen eine Gruppenbucht bereit, in der sie für weitere drei Monate feste Vollmilchgaben erhalten, bis sie mit einem Gewicht von rund 250 kg geschlachtet werden. Nach Dentlers Angaben nimmt der Trennungsschmerz zwischen Kalb und Mutter mit der Intensität und Dauer der Kontakte zu, die in der Aufzuchtphase entstanden sind.  
Trennungsschmerz verringern
In der Veranstaltung beschrieb die Expertin weitere Varianten von kuhgebundener Kälberaufzucht mit weniger Trennungsschmerz. So beispielsweise auf dem Hofgut Rengoldshausen bei Überlingen, wo das Kalb nach einer zwölfwöchigen Tränkephase bei der eigenen Mutter für weitere vier Wochen bei einer Amme trinken kann, zusammen mit zwei weiteren Kälbern. Das Absetzgewicht liegt dann bei 200 kg. Dafür wird ein Milchverbrauch von 1080 Litern kalkuliert. Demgegenüber sind bei der klassischen dreimonatigen Eimertränke nur 499 Liter Vollmilch pro Kalb erforderlich.
Mit 1700 Litern deutlich mehr Milch als die bisherigen Verfahren beansprucht die „verlängerte Kälberaufzucht”, bei der die Mutterkühe (und Ammen) saisonal im Frühjahr abkalben. Kurz nach der Geburt werden je drei Kälber einer Amme zugeteilt. Während der Vegetationsperiode befinden sie sich mit ihr meist auf der Weide. Die Mutterkühe werden wieder im Melkstand gemolken. Als Amme dienen Kühe, die milchleistungsmäßig (noch) nicht top sind. Dennoch reicht ihr Aufkommen aus, um die Kälber zum Saisonende auf 300 kg LG zu bringen. Die Vorteile dieses Systems liegen insbesondere im geringen Arbeitsaufwand. In größeren Beständen, wo die verfügbaren Ammen mit der Anzahl an neu geborenen Kälbern gut vereinbar sind, kann die „verlängerte Kälberaufzucht” auch asaisonal betrieben werden. Laut Dentler bleiben dort je drei Kälber nur über vier Monate bei ihrer Amme bis zu einem Lebendgewicht von rund 240 kg, was einen kalkulatorischen Milchverbrauch von 1300 Litern je Kalb erfordert. Die asaisonale Aufzucht ist ebenfalls arbeitssparend. Wegen ihres geringeren Absetzgewichtes ist sie milchsparenderer als die saisonale Variante. Gleichzeitig kann die Vermarktung unabhängig von dem saisonalen Rinderpreistief im Herbst betrieben werden.  
Direkter Erfolgsvergleich
Mit einer Zusammenstellung der Verfahrenskosten regt Dentler zu einem direkten Erfolgsvergleich an. Entscheidend für eine Beurteilung sind immer die Rahmenbedingungen vor Ort. Bei den drei Verfahren mit (zeitweiser) Eimer-tränke wird Kraftfutter eingesetzt. Bei ihnen ist zudem der Arbeitszeiteinsatz relativ hoch (4 bis 8,5 Stunden/Kalb). Diesem Mehraufwand steht ein verhältnismäßig geringer Einsatz von teurer, verkaufsfähiger Milch gegenüber (379 bis 504 Liter/Kalb). Bei den übrigen Verfahren ohne Eimer-tränke ist der Milcheinsatz deutlich höher. Der Arbeitseinsatz hingegen ist tendenziell geringer. Das höhere Absetzgewicht (200 bis 300 kg LG) eröffnet bei den männlichen Kälbern die direkte Schlachtverwertung und bildet damit einen Ausweg aus dem Vermarktungsproblem bei männlichen Biokälbern. Zu beachten ist allerdings auch der hohe Kostenbedarf, der durch erweiterte Stallkapazitäten verursacht wird, insbesondere bei saisonalen Abkalbungen.