Der ukrainische Agrarrat, dem rund 1100 Unternehmen mit rund 3,5 Millionen Hektar Anbaufläche angehören, warnt vor einem katastrophalen Produktionseinbruch, sollte der russische Angriffskrieg nicht bald beendet werden.
Ukrainischen Fachleuten zufolge wird unter den derzeitigen Bedingungen die Ernte im Land deutlich geringer ausfallen, und es ist kaum mit nennenswerten Getreideausfuhren zu rechnen.
Nach Angaben des Ratsvorsitzenden Andriy Dykun hat derzeit etwa die Hälfte aller ukrainischen Agrarbetriebe die Arbeit eingestellt. Zwar seien nicht alle Mitarbeiter oder Betriebsleiter an der Front, doch angesichts der regional intensiven Kriegshandlungen trauten sich viele Bauern nicht auf die Felder, teilte Dykun am 9. März mit. Zusätzlich erschwert wird die Lage dem Ratsvorsitzenden zufolge durch den Zusammenbruch des Bankensystems. Die Bauern hätten somit oft keinen Zugriff auf Finanzmittel, um Saatgut und – wo überhaupt verfügbar – Dünger zu kaufen. Außerdem finde derzeit praktisch kein Handel statt, sodass die Landwirte auch über Verkäufe nicht an Liquidität gelangen könnten. Zudem gebe es Fälle, in denen die russische Armee den Landwirten Treibstoff geraubt und Maschinen zerstört habe.
Laut Dykun ist die Dieselversorgung im Land ohnehin prekär. Er weist darauf hin, dass 75Prozent des ukrainischen Dieselkraftstoffs aus Russland stammten. Diese Lieferungen seien aber längst eingestellt. Die restlichen Versorgungslinien über den Seeweg seien ebenfalls gekappt. Man müsse also damit rechnen, dass die Feldarbeiten auch in den noch nicht vom Krieg betroffenen Landesteilen bald wegen Treibstoffmangel eingestellt werden müssten.
Ukraine mit Diesel unterstützen
Der Vorsitzende des ukrainischen Agrarrates befürchtet
deshalb sowohl im Inland als auch an den internationalen Agrarmärkten
eine Lebensmittelkatastrophe, sollte sich an den aktuellen
Rahmenbedingungen nichts ändern. Vor diesem Hintergrund appellierte er
an den Westen, der kriegsgeschüttelten Ukraine Nahrung, Waffen und
Diesel zur Verfügung zu stellen. Vor drastischen Folgen des
Ukraine-Kriegs für die globale Ernährungssicherheit warnt ebenfalls die
Kiewer Hochschule für Ökonomie (KSE). In einer Analyse weisen die
Ökonomen darauf hin, dass Weizen und Mais weltweit fast 30 Prozent aller
verzehrten Kalorien ausmachten. Die Ukraine exportierte bisher etwa
zehn Prozent des international gehandelten Weizens und etwa 16Prozent
vom Mais. Nach den Berechnungen der Fachleute sind weltweit rund 400
Millionen Menschen von diesen Lieferungen abhängig, die meisten davon im
Nahen Osten und Nordafrika.
Vor diesem Hintergrund stellen die Autoren der Analyse klar, dass große
Produktions- und Exportausfälle in der Ukraine bereits nicht mehr zu
verhindern seien. Zwar seien die Winterkulturen noch in einem guten
Zustand, doch ohne eine rechtzeitige Frühjahrsdüngung seien deutlich
kleinere Weizenerträge unvermeidlich. Allerdings fehlten schon jetzt in
den meisten Teilen des Landes Düngemittel und Treibstoff. Auch von den
Sommerungen dürfe aus den gleichen Gründen nur ein Bruchteil in den
Boden kommen, was das Aufkommen auch hier stark begrenzen werde.
Die Einschätzung der Kiewer Ökonomen wird durch aktuelle Meldungen
bestätigt. Nach Angaben vom Chefredakteur des ukrainischen
Landwirtschaftsmagazins Zerno, Yuri Goncharenko, sind die Feldarbeiten
im Norden, Süden und Osten des Landes praktisch zum Erliegen gekommen.
Im Westen und in der Mitte der Ukraine seien die Arbeiten derzeit aber
noch in vollem Gange. Goncharenko geht davon aus, dass die Ukraine unter
diesen Bedingungen maximal die Hälfte der Vorjahresernte erzeugen kann.
Versorgungsbilanz mit großen Lücken
Die KSE rechnet damit, dass angesichts der
Ertragseinbußen und der zerstörten Verladekapazitäten an den Seehäfen
sowie weiterer logistischer Probleme im kommenden Wirtschaftsjahr kaum
mit nennenswerten Getreideausfuhren aus der Ukraine zu rechnen ist. Auch
Russland dürfte nach ihrer Einschätzung weitgehend als Exporteur
ausfallen. Im schlimmsten Fall bedeute dies, dass rund 60 Millionen
Tonnen Weizen, 38 Millionen Tonnen Mais und 10,5 Millionen Tonnen
Ölsaaten in der internationalen Versorgungsbilanz fehlen könnten. Die
Ökonomen befürchten deshalb eine „große humanitäre Krise” mit Hunderten
Millionen betroffenen Menschen, sollten die Kriegshandlungen in der
Ukraine noch weitere Monate andauern.
Selbst danach sei nicht mit einer schnellen Normalisierung zu rechnen,
heißt es in der Analyse. Die Experten gehen davon aus, dass die Ukraine
zwei bis drei Jahre benötigen wird, um bei der Getreideerzeugung und den
Ausfuhren wieder das Vorkriegsniveau zu erreichen.
Blick von außen: Landwirtschaft erheblich getroffen
Ein düsteres Bild der gegenwärtigen Lage in der ukrainischen Land- und Ernährungswirtschaft und ihrer Perspektiven zeichnet der geschäftsführende Direktor des Leibniz-Instituts für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) in Halle an der Saale, Professor Alfons Balmann.
Zwar hätten sich insbesondere Großbetriebe auf Erschwernisse durch einen Krieg vorbereitet. Das Ausmaß der Zerstörung in einigen Landesteilen sowie die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung für die Landesverteidigung habe jedoch enorme Auswirkungen, sagt Balmann im Interview mit dem Fachpressedienst Agra-Europe. So gehe es in den umkämpften Gebieten bestenfalls noch um den Schutz von Anlagen und Vorräten sowie eine Notversorgung der Tiere. Milch könne dort nicht mehr verarbeitet werden. Treibstoff sei an die Armee abgegeben oder vernichtet worden.
Dem Wissenschaftler zufolge ist die Frühjahrsaussaat der für das Land wichtigen Kulturen Mais, Sonnenblumen, Soja und Kartoffeln erheblich gefährdet. Als Getreideexporteur werde die Ukraine mindestens in diesem und im nächsten Jahr weitgehend ausfallen.
Sorge bereiteten insbesondere die bereits drastisch gestiegenen Weizenpreise auf den internationalen Märkten, die vor allem viele ärmere Länder träfen. Neben dem Ausfall für die direkte menschliche Ernährung würden die Märkte für Futtermittel in Mitleidenschaft gezogen. Dies gelte in erster Linie für Mais und GVO-freie Eiweißfuttermittel. „Davon werden nicht zuletzt auch die ohnehin stark gebeutelten Tierhalter in Deutschland betroffen sein”, so der IAMO-Direktor.
Nach Angaben von Balmann hat die ukrainische Landwirtschaft in den vergangenen Jahren einen enormen Modernisierungsprozess durchlaufen. Es herrsche Stolz darüber, was man in eigener Verantwortung aufgebaut habe. Gerade Agrarholdings seien vielfach Vorreiter für Innovationen gewesen und hätten eine hohe Rentabilität erreicht. Ländliche Regionen hätten von stetig steigenden Pachtpreisen und Löhnen sowie dem sozialen Engagement der Unternehmen in den Dörfern profitiert.
Insgesamt sei die ukrainische Landwirtschaft seit Langem sehr westlich orientiert. Sollten sich die Russen in naher Zukunft wieder aus dem Land zurückziehen, könne in der ukrainischen Landwirtschaft innerhalb weniger Jahre ein zügiger Wiederaufbau erfolgen. Dazu käme es dem Wissenschaftler zufolge vermutlich nicht, würde die Ukraine besetzt. In diesem Szenario befürchtet Balmann längerfristig erhebliche Auswirkungen auf die internationale Nahrungsmittelversorgung.