Ländliche Räume in Deutschland entwickeln sich überaus heterogen und keinesfalls geradlinig. Die Verbundstudie „Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012” analysiert das Leben in 14 ausgewählten Orten im Bundesgebiet.
Zu den untersuchten Dörfern in Deutschland gehörte der Winzerort Vogtsburg-Bischoffingen im Kaiserstuhl.
Landläufige Erklärungsmuster greifen in den meisten Fällen zu kurz. Das ist ein wesentliches Ergebnis einer Langzeitstudie unter Federführung des Braunschweiger Thünen-Instituts (TI), die am 29. Oktober in Berlin vorgestellt wurde.
Im Rahmen des Forschungsprojekts untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit 1952 in Abständen von 20 Jahren die Lebensverhältnisse in immer denselben zehn westdeutschen und seit 1993 auch in vier ostdeutschen Orten. Auftraggeber der Studie ist das Bundeslandwirtschaftsministerium.
Rückstandsdörfer überwinden Situation
Für den Leiter der Verbundstudie,
Dr. Heinrich Becker vom Thünen-Institut für Ländliche Räume, ist eines
der auffälligsten Ergebnisse, dass die Problem- oder „Rückstandsdörfer”
aus der ersten Untersuchung von 1952 diese Situation längst überwunden
haben. „Dabei kann die unterschiedliche Entwicklung der
Untersuchungsdörfer nicht auf einzelne Faktoren wie verkehrliche
Anbindung, wirtschaftliche oder demografische Entwicklung zurückgeführt
werden”, betonte der Wissenschaftler. Die Entwicklungen seien vor allem
das Ergebnis der Anstrengungen vor Ort. Dabei hätten es die örtlichen
Entscheidungsträger verstanden, die verschiedenen staatlichen
Unterstützungsprogramme des Bundes und der Länder in ihrem Sinn zu
nutzen.
Thünen-Präsident Professor Folkhard Isermeyer bezeichnete die
Dorfstudie als „international einmalig”. Sie ermögliche einen klaren
Blick auf Vergangenheit und Gegenwart der ländlichen Räume und gebe der
Politik wichtige Handlungsempfehlungen. Bundeslandwirtschaftsminister
Christian Schmidt hob die insgesamt positive Entwicklung der Dörfer in
den letzten Jahrzehnten hervor. Eine generelle Entvölkerung der
ländlichen Regionen sei nicht zu befürchten. Für Schmidt liegt der
Schlüssel zum Erfolg der sozialen Dorfentwicklung „in den Anstrengungen
vor Ort und im tatkräftigen Miteinander”.
Der Faktor digitale Infrastruktur
Die Politik müsse gemeinsam mit den Akteuren vor
Ort die ländlichen Räume stärken und sie attraktiver machen. „Wir müssen
die ländliche Wirtschaft stärker fördern und vor allem den
Breitbandausbau auf dem Land voranbringen”, betonte der CSU-Politiker.
Zum Bestimmungsfaktor für die Zukunftsfähigkeit der ländlichen Regionen
werde immer mehr die digitale Infrastruktur. Diese neuen Aufgaben würden
aber nur mit zusätzlichen Mitteln zu stemmen sein, räumte Schmidt ein.
Schmidts Parlamentarischer Staatssekretär Peter Bleser verteidigte
unterdessen die von seinem Ressort angestrebte „kleine Lösung” zur
Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes” (GAK). Es gehe darum, gezielt
Defiziten in der Infrastrukturausstattung, der Versorgung mit
elementaren Dienstleistungen und beim Arbeitsplatzangebot auf dem Lande
zu begegnen, ohne den „Agrarkern” der Gemeinschaftsaufgabe zu schmälern,
sagte Bleser bei der Abschlussveranstaltung zu der Langzeitstudie. Der
Staatssekretär versicherte erneut, dass es keine Abstriche etwa bei der
einzelbetrieblichen Förderung der landwirtschaftlichen Betriebe geben
werde.
Die Bundesregierung werde „Geld in die Hand nehmen”, um die geplante
Erweiterung des Förderspektrums zu unterfüttern. Der CDU-Politiker
zeigte sich zuversichtlich, dass neben den im Regierungsentwurf für den
Bundeshaushalt 2016 vorgesehenen zusätzlichen 30 Millionen Euro in den
parlamentarischen Beratungen weitere Mittel für die GAK mobilisiert
werden.
Wie Bleser mitteilte, sollen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe künftig
auch Investitionen in nichtlandwirtschaftliche Tätigkeiten von kleinen
und mittleren Unternehmen außerhalb der Landwirtschaft gefördert werden
können. Daneben gehe es um die Unterstützung von Basisdienstleistungen
für die ländliche Bevölkerung wie medizinische Versorgung, soziale und
kulturelle Einrichtungen, öffentlicher Personennahverkehr sowie
Bildungseinrichtungen. Schließlich solle der Förderkatalog auf kleine,
bei Breitband auch große Infrastrukturen erweitert werden.
Integration am besten dezentral
Thünen-Präsident Isermeyer kündigte die Einrichtung
einer Arbeitsgruppe zur Integration von Flüchtlingen im ländlichen Raum
an. „Integration gelingt am besten dezentral”, betonte Isermeyer. Zwar
könne der ländliche Raum nicht die Hauptrolle bei der Bewältigung der
anstehenden Herausforderungen spielen. Außer Frage stehe für ihn jedoch,
dass auch die Landbevölkerung Verantwortung übernehmen müsse. Es gehe
in der Arbeitsgruppe darum, Informationen etwa zur Beschäftigung von
Flüchtlingen zu erarbeiten, zu bündeln und den Akteuren zur Verfügung zu
stellen.
Um die Entwicklung der einzelnen Dörfer detailliert zu beschreiben,
haben die an der Verbundstudie beteiligten Forscher nach Thünen-Angaben
eine Vielzahl von Daten ausgewertet. Mehr als 3000 zufällig ausgewählte
Personen hätten in standardisierten Befragungen Auskunft über die
Lebensverhältnisse gegeben. Neben der Entwicklung in den
Untersuchungsorten von den 1950er-Jahren bis heute setzt die Studie in
acht Teilprojektberichten auch unterschiedliche thematische
Schwerpunkte.
Bischoffingen dabei
In den Teilvorhaben wurden Zuzugs-,
Fortzugs- und Bleibemotive, Bewältigungsstrategien im Alltag, der Wandel
der Kindheit, der Umgang mit neuen Medien, die Chancen und Grenzen
regionaler Arbeitsmärkte, soziale Unterstützungsstrukturen, kommunale
Handlungsmöglichkeiten und die Anforderungen an die Landwirtschaft aus
Sicht der Bewohner in den Dörfern untersucht.
Einbezogen in die Verbundstudie sind die Dörfer Bischoffingen und
Kusterdingen in Baden-Württemberg, Bockholte, Elliehausen und Groß
Schneen in Niedersachsen, Falkenberg und Gerhardshofen in Bayern,
Finneland in Sachsen-Anhalt, Freienseen in Hessen, Glasow und Krackow in
Mecklenburg-Vorpommern, Badingen, Burgwall, Marienthal, Mildenberg,
Ribbeck und Zabelsdorf in Brandenburg, Ralbitz-Rosenthal in Sachsen,
Spessart in Rheinland-Pfalz sowie Westrup in Nordrhein-Westfalen.
Landwirtschaft im Wandel
Becker verwies auf die veränderten Herausforderungen, denen
sich die Dörfer in den vergangenen Jahrzehnten gegenübergesehen hätten.
Habe Anfang
der Fünfzigerjahre neben der
Sicherung der Ernährung die
Unterbringung und Integration der Flüchtlinge aus den ehemaligen
Ostgebieten im Vordergrund gestanden, sei zu Beginn der Siebzigerjahre
die Sorge um die Abwanderung und die Aufrechterhaltung der dörflichen
Infrastruktur in den Mittelpunkt gerückt.
Das Thema Abwanderung habe sich nach der Wiedervereinigung insbesondere
in den ostdeutschen Untersuchungsdörfern noch verstärkt. Vorherrschende
Themen in den jüngsten Befragungen seien der demografische Wandel und
dessen Folgen für die Dörfer, ferner die Auswirkungen der Globalisierung
und die neue Attraktivität des Stadtlebens gewesen.
Der Wissenschaftler hob auch den Bedeutungswandel der Landwirtschaft
hervor. Zwar hätten das produzierende Gewerbe und der
Dienstleistungssektor die Landwirtschaft inzwischen als wirtschaftliches
Rückgrat der ländlichen Räume abgelöst. Gleichwohl spiele die
Landwirtschaft nach wie vor eine entscheidende Rolle. Zur Begründung
verwies Becker neben deren Funktion bei der Bereitstellung von
Arbeitsplätzen vor allem auf den prägenden Einfluss der
landwirtschaftlichen Betriebe auf die Gestaltung der Landschaft.
Spannungen, die aus veränderten Ansprüchen der Dorfbevölkerung an ihr
„Umland” gegenüber der Landwirtschaft resultieren, lassen sich nach den
Erfahrungen des Wissenschaftlers in den meisten Fällen austarieren.