Politik | 06. November 2015

Engagement und Miteinander als Schlüssel

Von AgE
Ländliche Räume in Deutschland entwickeln sich überaus heterogen und keinesfalls geradlinig. Die Verbundstudie „Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012” analysiert das Leben in 14 ausgewählten Orten im Bundesgebiet.
Zu den untersuchten Dörfern in Deutschland gehörte der Winzerort Vogtsburg-Bischoffingen im Kaiserstuhl.
Landläufige Erklärungsmuster greifen in den meisten Fällen zu kurz. Das ist ein wesentliches Ergebnis einer Langzeitstudie unter Federführung des Braunschweiger Thünen-Instituts (TI), die am 29. Oktober in Berlin vorgestellt wurde.
Im Rahmen des Forschungsprojekts untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit 1952 in Abständen von 20 Jahren die Lebensverhältnisse in immer denselben zehn westdeutschen und seit 1993 auch in vier ostdeutschen Orten. Auftraggeber der Studie ist das Bundeslandwirtschaftsministerium.
Rückstandsdörfer überwinden Situation
Für den Leiter der Verbundstudie, Dr. Heinrich  Becker  vom Thünen-Institut für Ländliche Räume, ist eines der auffälligsten Ergebnisse, dass die Problem- oder „Rückstandsdörfer” aus der ersten Untersuchung von 1952 diese Situation längst überwunden haben. „Dabei kann die unterschiedliche Entwicklung der Untersuchungsdörfer nicht auf einzelne Faktoren wie verkehrliche Anbindung, wirtschaftliche oder demografische Entwicklung zurückgeführt werden”, betonte der Wissenschaftler. Die Entwicklungen seien vor allem das Ergebnis der Anstrengungen vor Ort. Dabei hätten es die örtlichen Entscheidungsträger verstanden, die verschiedenen staatlichen Unterstützungsprogramme des Bundes und der Länder in ihrem Sinn zu nutzen.
Thünen-Präsident Professor Folkhard  Isermeyer  bezeichnete die Dorfstudie als „international einmalig”. Sie ermögliche einen klaren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart der ländlichen Räume und gebe der Politik wichtige Handlungsempfehlungen. Bundeslandwirtschaftsminister Christian  Schmidt  hob die insgesamt positive Entwicklung der Dörfer in den letzten Jahrzehnten hervor.  Eine generelle Entvölkerung der ländlichen Regionen sei nicht zu befürchten. Für Schmidt liegt der Schlüssel zum Erfolg der sozialen Dorfentwicklung „in den Anstrengungen vor Ort und im tatkräftigen Miteinander”.
Der Faktor digitale Infrastruktur
Die Politik müsse gemeinsam mit den Akteuren vor Ort die ländlichen Räume stärken und sie attraktiver machen. „Wir müssen die ländliche Wirtschaft stärker fördern und vor allem den Breitbandausbau auf dem Land voranbringen”, betonte der CSU-Politiker. Zum Bestimmungsfaktor für die Zukunftsfähigkeit der ländlichen Regionen werde immer mehr die digitale Infrastruktur. Diese neuen Aufgaben würden aber nur mit zusätzlichen Mitteln zu stemmen sein, räumte Schmidt ein.
Schmidts Parlamentarischer Staatssekretär Peter  Bleser  verteidigte unterdessen die von seinem Ressort angestrebte „kleine Lösung” zur Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes” (GAK). Es gehe darum, gezielt Defiziten in der Infrastrukturausstattung, der Versorgung mit elementaren Dienstleistungen und beim Arbeitsplatzangebot auf dem Lande zu begegnen, ohne den „Agrarkern” der Gemeinschaftsaufgabe zu schmälern, sagte Bleser bei der Abschlussveranstaltung zu der Langzeitstudie. Der Staatssekretär versicherte erneut, dass es keine Abstriche etwa bei der einzelbetrieblichen Förderung der landwirtschaftlichen Betriebe geben werde.
Die Bundesregierung werde „Geld in die Hand nehmen”, um die geplante Erweiterung des Förderspektrums zu unterfüttern. Der CDU-Politiker zeigte sich zuversichtlich, dass neben den im Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2016 vorgesehenen zusätzlichen 30 Millionen Euro in den parlamentarischen Beratungen weitere Mittel für die GAK mobilisiert werden.
Wie Bleser mitteilte, sollen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe künftig auch Investitionen in nichtlandwirtschaftliche Tätigkeiten von kleinen und mittleren Unternehmen außerhalb der Landwirtschaft gefördert werden können. Daneben gehe es um die Unterstützung von Basisdienstleistungen für die ländliche Bevölkerung wie medizinische Versorgung, soziale und kulturelle Einrichtungen, öffentlicher Personennahverkehr sowie Bildungseinrichtungen. Schließlich solle der Förderkatalog auf kleine, bei Breitband auch große Infrastrukturen erweitert werden.
Integration am besten dezentral
Thünen-Präsident Isermeyer kündigte die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Integration von Flüchtlingen im ländlichen Raum an.  „Integration gelingt am besten dezentral”, betonte Isermeyer. Zwar könne der ländliche Raum nicht die Hauptrolle bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen spielen. Außer Frage stehe für ihn jedoch, dass auch die Landbevölkerung Verantwortung übernehmen müsse.  Es gehe in der Arbeitsgruppe darum, Informationen etwa zur Beschäftigung von Flüchtlingen zu erarbeiten, zu bündeln und den Akteuren zur Verfügung zu stellen.
Um die Entwicklung der einzelnen Dörfer detailliert zu beschreiben, haben die an der Verbundstudie beteiligten Forscher nach Thünen-Angaben eine Vielzahl von Daten ausgewertet. Mehr als 3000 zufällig ausgewählte Personen hätten in standardisierten Befragungen Auskunft über die Lebensverhältnisse gegeben.  Neben der Entwicklung in den Untersuchungsorten von den 1950er-Jahren bis heute setzt die Studie in acht Teilprojektberichten auch unterschiedliche thematische Schwerpunkte.
Bischoffingen dabei
In den Teilvorhaben wurden Zuzugs-, Fortzugs- und Bleibemotive, Bewältigungsstrategien im Alltag, der Wandel der Kindheit, der Umgang mit neuen Medien, die Chancen und Grenzen regionaler Arbeitsmärkte, soziale Unterstützungsstrukturen, kommunale Handlungsmöglichkeiten und die Anforderungen an die Landwirtschaft aus Sicht der Bewohner in den Dörfern untersucht.
Einbezogen in die Verbundstudie sind die Dörfer Bischoffingen und Kusterdingen in Baden-Württemberg, Bockholte, Elliehausen und Groß Schneen in Niedersachsen, Falkenberg und Gerhardshofen in Bayern, Finneland in Sachsen-Anhalt, Freienseen in Hessen, Glasow und Krackow in Mecklenburg-Vorpommern, Badingen, Burgwall, Marienthal, Mildenberg, Ribbeck und Zabelsdorf in Brandenburg, Ralbitz-Rosenthal in Sachsen, Spessart in Rheinland-Pfalz sowie Westrup in Nordrhein-Westfalen.
Landwirtschaft im Wandel
Becker verwies auf die veränderten Herausforderungen, denen sich die Dörfer in den vergangenen Jahrzehnten gegenübergesehen hätten. Habe Anfang der Fünfzigerjahre neben der Sicherung der Ernährung die Unterbringung und Integration der Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten im Vordergrund gestanden, sei zu Beginn der Siebzigerjahre die Sorge um die Abwanderung und die Aufrechterhaltung der dörflichen Infrastruktur in den Mittelpunkt gerückt.
Das Thema Abwanderung habe sich nach der Wiedervereinigung insbesondere in den ostdeutschen Untersuchungsdörfern noch verstärkt. Vorherrschende Themen in den jüngsten Befragungen seien der demografische Wandel und dessen Folgen für die Dörfer, ferner die Auswirkungen der Globalisierung und die neue Attraktivität des Stadtlebens gewesen.
Der Wissenschaftler hob auch den Bedeutungswandel der Landwirtschaft hervor. Zwar hätten das produzierende Gewerbe und der Dienstleistungssektor die Landwirtschaft inzwischen als wirtschaftliches Rückgrat der ländlichen Räume abgelöst. Gleichwohl spiele die Landwirtschaft nach wie vor eine entscheidende Rolle. Zur Begründung verwies Becker neben deren Funktion bei der Bereitstellung von Arbeitsplätzen vor allem auf den prägenden Einfluss der landwirtschaftlichen Betriebe auf die Gestaltung der Landschaft. Spannungen, die aus veränderten Ansprüchen der Dorfbevölkerung an ihr „Umland” gegenüber der Landwirtschaft resultieren, lassen sich nach den Erfahrungen des Wissenschaftlers in den meisten Fällen austarieren.