Tierhaltung | 06. Februar 2020

Die Ursache war Streustrom

Von Dr. Michael Götz, Eggersriet/Schweiz
Streuströme in Melkständen können bei ungenügender Erdung oder Wirksamkeit des Potenzialaus- gleichs auftreten. Zellzahlprobleme bei den Kühen können die Folge sein. Um die Ursachen zu finden, sind Fachleute gefragt.
Die Zellzahl in der Tankmilch fing plötzlich an zu steigen, innerhalb von anderthalb Monaten von 100000 auf 300000 Zellen/ml. „Es ging massiv nach oben”, erzählt Rolf Müller im schweizerischen Ottoberg rückblickend. Das war im März 2019. Er prüfte die Milch seiner Kühe mit dem Schalmtest und konnte keine wirklich an einer Euterentzündung erkrankte Kuh feststellen. Er merkte aber, dass die Kühe die Milch nicht mehr ganz herunterließen. Was war los?
Spannungsunterschiede
Die Zusammenführung der Stromkreise von Wohnhaus und Stall zum Anschluss an eine Notstromanlage gab den Ausschlag für Streuströme im Melkstand.
Der DeLaval Melkmaschinenservice prüfte auf Anfrage die Spannungsunterschiede im Melkstand. Diese sind Auslöser von sogenannten Streuströmen,  auch Kriechströme oder vagabundierende Ströme genannt. Obwohl die Erdung der Geräte und der metallischen Einrichtungen im Melkstand in Ordnung war, stellte der Servicemonteur Spannungsdifferenzen fest und empfahl dem Landwirt, das ESTI, das Eidgenössische Starkstrominspektorat, zur genaueren Abklärung beizuziehen. Ein ESTI-Inspektor besuchte  den Betrieb und maß die Spannungen an allen wichtigen Punkten auf dem Betrieb, und zwar vor dem Melken und während des Melkens. An den Rohren des Melkstandes maß er Stromflüsse von bis zu 70 mA. Kühe reagieren schon ab Berührungsspannungen von 1 Volt, die bereits bei kleinen Strömen von nur 1 mA auftreten können.
Der Grund für das plötzliche Auftreten von Streuströmen lag an  Änderungen im Erdungssystem. Der Landwirt hatte ein Notstromaggregat anschließen lassen, das sowohl das Wohnhaus als auch den Stall mit Strom versorgte. Dafür wurde die Stromzufuhr an einem Punkt zusammengefasst. Das funktionierte gut, doch nun floss über den Netzschutzleiter mehr Strom, nämlich sowohl vom Wohnhaus als auch vom Stall, zum zentralen Erdungspunkt, der Güllegrube. Dabei passierte der Strom den Melkstand.
Um den Stromfluss durch den Melkstand zu verhindern, muss dieser vom restlichen Erdungssystem getrennt und zu einem neuen, zentralen Erdungspunkt ausgerichtet werden, an welchen alle Rohrkonstruktionen sternförmig angeschlossen werden, erklärt der Inspektor des ESTI. Dies ließ sich relativ einfach mithilfe einer isolierten Erdungssammelschiene ausführen, da schon eine separate Stromverteilung sowie Fehlerstromschutzschalter FI von 30 mA vorhanden waren. „Es mussten nur ein paar Drähte umgehängt werden”, erzählt der Landwirt. In einem anderen Fall, in dem eine zentrale Erdung nicht möglich war, musste der Landwirt das ganze Melkstandgestänge isolieren. Dazu gehörten sowohl die Bodenplatten als auch die Bodenschrauben. Letztere benötigten Isolierhülsen.
Innerhalb von zwei Wochen ging die Tank-Zellzahl auf 140000 zurück. Eine Erstkalbekuh, welche die Milch nur mithilfe einer Oxytocin-Injektion im Melkstand heruntergelassen hatte, gab zwei Tage nach der separaten Erdung die Milch ohne Spritze. Dieses Tier war offensichtlich besonders anfällig auf Streustrom, der in geringerer Stärke wohl schon vor der Zusammenlegung von Wohnhaus und Stall vorhanden war. Diese gab dann aber den Ausschlag. „Kühe reagieren diffizil auf Streuströme”, sagt Müller. Schon  2003, drei Jahre nach dem Bau des Laufstalles und des Melkstandes, hatte sein Melkmaschinentechniker solche im Melkstand festgestellt. Diese waren die Folge einer Korrosion der Metallteile im Melkstand. Es entstanden galvanische Elemente, bei denen chemische in elektrische Energie umgesetzt wird. Damals genügte es, das Gestänge des 2×6 Side-by-Side-Melkstandes besser zu erden.
 
Erdungssystem bei der Planung genau abklären
Alle Rohrkonstruktionen im Melkstand sind mit einem separaten, zentralen Erdungspunkt verbunden.
Um Spannungsdifferenzen und damit Streuströme zu vermeiden, ist es ratsam, schon bei der Planung eines neuen Stalles eine Fachperson hinzuzuziehen. Es ist einfacher, Spannungsdifferenzen bei der Planung vorzubeugen, als nachher die Erdungsleiter zu trennen und neu zu führen.  Das kann hohe Kosten nach sich ziehen. Fachleute können in der Nähe befindliche elektrische Installationen, zum Beispiel eine Trafostation, eine Photovoltaikanlage oder Stromleitungen, berücksichtigen, um so mögliche Spannungsunterschiede zu vermeiden. Wichtig ist immer, dass es einen zentralen Erdungspunkt gibt. Bei bestehenden Ställen gehen Stromflüsse nicht immer zum zentralen Erdungspunkt, da oft alles miteinander verbunden ist und sich Leiterschlaufen bilden. Dies hat Streuströme an stromleitenden Einrichtungen zur Folge. Änderungen an der Erdung dürfen nur von Elektrofachpersonen vorgenommen werden. „Fehler können lebensgefährlich für Mensch und Tier werden”, warnt der Strominspektor.
 
Unangenehm bis schmerzhaft
Ab einer Differenz-Wechselspannung von 1 V können Körperströme von 1 bis 2 mA auftreten, welche Tiere wahrnehmen.  Es kommt dabei auf die Leitfähigkeit der berührenden Körperteile an. Die Tiere greifen diese Spannung in den meisten Fällen zwischen leitfähigen Einrichtungen wie Futterkrippen, Tränken und Melkmaschinen auf der einen Seite und Betonböden auf der anderen Seite ab. Je nach Empfindlichkeit und Leitfähigkeit empfindet das Tier den Stromfluss als unangenehm bis schmerzhaft. Es führt in der Regel dazu, dass Tiere bestimmte Stellen im Stall meiden, zum Beispiel nicht mehr in Liegeboxen liegen, Tränken meiden, nicht mehr gerne zum Melken kommen oder die Milch nicht ganz herunterlassen.
Im Melkstand führen Streuströme zu Reizungen der Zitzen und damit zu einer höheren Zellzahl sowie  auf die Dauer zu einem erhöhten Risiko für Mastitis.