Tierhaltung | 30. April 2021

Die digitale Weide

Von Heinrich von Kobylinski
Die Fortschritte in der elektronischen Datenerhebung werden auch in der kleinteiligen Struktur Baden-Württembergs bald Einzug halten. Wie das im Grünland konkret aussehen soll, zeigten das LAZBW Aulendorf und die Universität Hohenheim bei einer Online-Veranstaltung.
Kauschläge zählen und Wiederkauen von Fressen unterscheiden. Das kann das Halfter dieser Kuh.
Sensoren und Kameras an Satelliten und Drohnen, leistungsfähige Rechner und erweiter-
te Speicherkapazitäten sollen künftig die Weidehaltung digitalisieren. Sie sollen unter anderem folgende Fragen beantworten: Welche Futtermenge befindet sich auf der Grünlandfläche? Wie viel davon nehmen die Kühe auf der Weide zu sich? Damit soll ein Management möglich sein, das auf Fakten und nicht nur auf Schätzungen beruht.
Wenn es um die Bestimmung des optimalen Schnittzeitpunktes geht, die tägliche Ertragsbestimmung der Flächen vor dem Weidegang und was die Kühe dann davon gefressen haben, können Betriebsleiterinnen und Betriebsleiter das durch ihr Wissen, ihre Erfahrung und durch ihre sorgfältige Beobachtung einschätzen. Damit ist aber auch Unsicherheit verbunden. Dr. Jessica Werner von der Universität Hohenheim erinnerte an die wachsenden Anforderungen an Natur- und Landschaftsschutz und an das Tierwohl. Schließlich müssten überhöhte Besatzdichten und Überweidung vermieden werden sowie das Maß einer ausreichenden Düngung gefunden werden. 
Wie Pflanzen reflektieren
 Ein großer Fortschritt kann von den Sentinel-Satelliten erwartet werden, die im Rahmen des europäischen Copernicus-Programmes gestartet wurden und alle sechs Tage über demselben Ort auf der Erde erscheinen. Die radargestützten und witterungsunabhängigen Aufnahmereihen dieser Satelliten werden zum Beispiel mit den Daten des Deutschen Wetterdienstes kombiniert. Der zeitliche Vergleich der kostenlos verfügbaren Aufnahmereihen  erlaubt wertvolle Rückschlüsse auf die Ertragsmasse: Hohes Gras reflektiert anders als kurzes Gras. Wiederum anders erscheinen frisch geschnittene Bestände.
In vorausgegangen Jahren erfolgten vielfältige Kalibrierungen: Grünlandbestände wurden zunächst am Boden analysiert und daraufhin die Resultate mit den entsprechenden Radaraufnahmen verglichen. Die Erfahrungswerte daraus machen
jetzt eine Grünlandreifeprüfung möglich und erlauben so die Bestimmung des optimalen Schnittzeitpunktes, gemeinsam mit den Wetterdienstdaten.
Daraus hat die Landwirtschaftskammer in Schleswig-Holstein eine Ernteprognose für die ebenen Weideflächen in Norddeutschland erarbeitet. Für den Einsatz in den kleinteiligen und unterschiedlichen Naturräumen der süddeutschen Mittelgebirge und des Hügellandes muss diese Methode allerdings noch weiterentwickelt werden. Das hängt zum einen mit den verschiedenen Pflanzengesellschaften zusammen und zum anderen mit der Winkelstellung der Hanglagen und deren Reflexionseigenschaften bei der Radarerfassung. Hinzu kommt, dass die vorgegebene Fotosequenz von sechs Tagen in Süddeutschland nicht immer passt.
 Laut Jessica Werner wurde für Baden-Württembergs Weiden ein anderer Ansatz gewählt. Entwickelt wurde dieser im Rahmen des Forschungsprogramms DiWenkLa – kurz für digitale Wertschöpfungsketten für eine nachhaltige, kleinstrukturierte Landwirtschaft. Vor Ort werden die Informationen in drei Stufen erhoben: Zuerst wird mit einem mechanischen Gerät der Aufwuchs und damit der aktuelle Biomasseertrag der Weide bestimmt. Mithilfe der Wettervorhersage wird dazu die weitere Entwicklung der Grünmasse geschätzt. In der dritten Stufe wird festgestellt, wie viel Futter die einzelne Kuh tagsüber von der Weide aufnimmt. Daraus wird auch ermittelt, wie groß die Weideflächen sein müssen und wie viel zugefüttert werden muss.
Kausensoren und irische „Grasshopper”
Dazu werden bestimmte Kühe mit einem Drei-Achsen-Sensor ausgestattet, den sie an einem Halsband tragen. Zusätzlich werden über ein Nasenband, das mit einem weiteren Sensor verbunden ist, die Kauschläge aufgezeichnet. Anhand der per Sender übermittelten Art der Kieferbewegungen kann leicht zwischen Fressen und Wiederkauen unterschieden werden. Dies lässt Rückschlüsse auf die aufgenommene Futtermenge zu. Im Zusammenspiel mit dem Drei-Achsen-Sensor lassen sich auch die Ruhezeiten ermitteln. Laut Jessica Werner werden diese Daten auch direkt im digitalen Weidetagebuch Eingang finden können.
 Im Rahmen von DiWenkLa wird der Grasaufwuchs mithilfe des „Grasshoppers” ermittelt: Das gehstockähnliche Messgerät aus Irland ist mit einer beweglichen Aluminiumplatte ausgestattet, die am Stock entlang einer Skala laufen kann. Nach jedem Stockkontakt mit dem Boden „schwimmt” die Aluminiumplatte in einer bestimmten Distanz über dem Grund, die von der Höhe des Grasbestandes und seiner Dichte bestimmt wird. Über GPS sind standortgenaue Ermittlungen möglich, die an den heimischen Rechner versendet werden. Die Sicherheit der Ergebnisse hängt von der Zahl der Messungen ebenso ab wie von der Bestandesdichte. Laut Jessica Werner müssten die Ergebnisse des Grasshoppers auf extensiven Flächen mit hohem Kräuteranteil anders kalibriert werden als auf den Intensivflächen Irlands. Trotzdem: In Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Ergebnisse des Grasshoppers im Mittel nicht mehr als 13 Prozent von der Realität abweichen. 
Schlaue Mähmaschinen und Drohnen
Christoph Stumpe berichtete von Versuchen der Universität Hohenheim in Zusammenarbeit mit der Firma Claas. Dabei sollen Zusatzaggregate an den Erntemaschinen den Ertrag indirekt ermitteln, und zwar über den vergleichenden Kraftbedarf der Mähmaschine.  Bei den Versuchen wurde eine Drehmomentmesswelle verwendet, die zwischen Drehmomentstummel des Traktors und dem Mähwerk angebracht war.
Häufiger finde man solche Sensoren an den Häckslern. Gebräuchlich sind dort insbesondere die Grüngut-Durchflussmessungen per Nahfeld-Infrarotspektroskopie (NIRS). Ausschlaggebend ist die Lichtreflexion des durchfließenden Grüngutes, das nach dem NIRS-Prinzip auf seine Anteile im breiten Infrarotspektrum untersucht wird. Die Informationen über den Chlorophyllgehalt lassen auch Aussagen über Inhaltsstoffgehalte zu.
Einen wesentlich breiteren Anwendungsbereich hat die Infrarotspektroskopie bei den Flugdrohnen. Auch hier geht es um das Spektrum der Lichtreflexion von Pflanzen. Das menschliche Auge sieht nur einen kleinen Teil davon – nämlich die Strahlung im Bereich zwischen 380 und 630 Nanometer (nm). Die Bereiche Red Edge (680–730 nm) und NIR (780–2500 nm) hingegen können über Multispektralkameras wahrgenommen werden. Aus dem individuellen Frequenzspektrum kann sowohl die Pflanzenart abgelesen werden als auch ihre Nährstoffversorgung, ihre Trockenmasse und auch der Schädlingsbefall.
Multispektrale Kameras können jeweils bestimmte Frequenzbereiche erfassen – je nach Bauart. Bisher waren diese Geräte so schwer, dass dafür nur Flugzeuge oder Satelliten als geeignete Plattformen in Frage kamen. Inzwischen konnten sie stark verkleinert werden.
Drohnenhersteller wie DJI oder Parrot bieten dazu entsprechende Softwareprogramme an, die das Rohmaterial der einzelnen Kanäle der Kamera so überlagern, dass beispielsweise Normalbilder mit den Beobachtungen von anderen Spektralkanälen kombiniert und sichtbar gemacht werden. In den letzten Jahren sind bei den Drohnen die Tragkraft und die Flugdauer so weit angestiegen, dass die multispektrale Erfassung von Pflanzenbeständen neben der Vermessung zu einer Schwerpunktaufgabe für Drohnen wurde.