Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) hält es für unabdingbar, dass die Deutschen ihre Konsumgewohnheiten ändern. Zudem werde eine integrierte Politik für eine nachhaltigere Ernährung benötigt.
Als Mittel, um den Konsum tierischer Erzeugnisse zu vermindern, schlagen die Wissenschaftler unter anderem eine höhere Mehrwertsteuer vor.
Der WBAE-Vorsitzende Professor Harald Grethe übergab am 21. August Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner das Gutachten zur „nachhaltigeren Ernährung”. Darin stellt der Beirat fest, dass die bestehenden ernährungspolitischen Rahmenbedingungen aktuell „wenig nachhaltigkeitsförderlich” seien und Deutschland in dieser Hinsicht anderen europäischen, aber auch Drittländern hinterherhinke.
Beklagt werden unter anderem eine zu starke Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum und die Vernachlässigung verfügbarer Unterstützungsinstrumente für eine nachhaltigere Ernährung. Vor diesem Hintergrund adressiert der Beirat mit Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl vier Felder, in denen nach seiner Einschätzung Veränderungen zugunsten einer nachhaltigeren Ernährungsweise erforderlich sind.
Bei der Steuer den Hebel ansetzen
Empfohlen werden unter anderem die Reduzierung des
Konsums tierischer Erzeugnisse, auch durch eine höhere Mehrwertsteuer,
ein mehrstufiges staatliches Tierschutzlabel mit tendenziell steigenden
Anforderungen und eine nationale Nutztierstrategie.
Klöckner sieht viele der Vorschläge und Empfehlungen des
Wissenschaftlichen Beirats als „Rückenwind für die Ernährungspolitik”
ihres Ministeriums an. Viele Empfehlungen des Beirats werden nach
Auffassung der Ministerin bereits im Rahmen der nationalen Strategie zur
Reduzierung der Lebensmittelverschwendung umgesetzt. Ziel sei es,
entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette die
Lebensmittelverschwendung bis zum Jahr 2030 deutlich zu reduzieren, im
Handel und auf Verbraucherebene sogar zu halbieren.
Grethe sprach sich bei der Übergabe des Gutachtens für stärkere
politische Steuerungsimpulse für die Unterstützung nachhaltigerer
Konsumentscheidungen aus. Damit stößt er bei vielen Verbänden auf offene
Ohren.
In der Wertschöpfungskette für Lebensmittel treten nach Einschätzung der
WBAE-Wissenschaftler vermeidbare negative ökologische Effekte auf,
insbesondere hinsichtlich Biodiversität, Stickstoffüberschüssen und
Treibhausgasemissionen. In Sachen Tierwohl attestieren sie der deutschen
Tierhaltung zwar „einige Einzelschritte” hin zu mehr Tierschutz,
vermissen jedoch eine politisch legitimierte Strategie, die größere
Fortschritte ermögliche.
In puncto Gesundheit monieren die Autoren des Gutachtens eine deutliche
Korrelation zwischen Armut und ernährungsbedingten gesundheitlichen
Beeinträchtigungen. Unter sozialen Gesichtspunkten werden mögliche
Defizite im Bereich der Saison- und Leiharbeit sowie in der
Schlachtindustrie bemängelt. Der Beirat formuliert deshalb insgesamt
neun Empfehlungen für die nach seiner Überzeugung notwendige
Transformation der Ernährung.
Verpflichtendes Klimalabel
Eine „global verträgliche Ernährung” erfordert nach
Überzeugung des Wissenschaftlichen Beirats „zwingend” einen Rückgang des
„hohen Konsums” tierischer Produkte in wohlhabenden Ländern. Er
plädiert deshalb unter anderem für die Abschaffung des reduzierten
Mehrwertsteuersatzes für tierische Erzeugnisse und die Einführung einer
„Nachhaltigkeitssteuer”, die beispielsweise zur Finanzierung der
Transformation der Tierhaltung genutzt werden könnte.
Darüber hinaus sollte ein verpflichtendes Klimalabel für alle
Lebensmittel eingeführt und die Nährwertkennzeichnung Nutri-Score
möglichst EU-weit eingesetzt werden. Nicht zuletzt zur Verbesserung der
Haltungsbedingungen spricht sich der WBAE für ein mehrstufiges
staatliches Tierschutzlabel mit tendenziell steigenden Anforderungen
aus, das in eine nationale Nutztierstrategie eingebunden werden sollte.
Nicht die gesamte Landwirtschaft umstellen
Die Wissenschaftler betonen in ihrem Gutachten
den Nutzen des ökologischen Landbaus, plädieren aber gleichwohl nicht
für eine Komplettumstellung der gesamten deutschen Landwirtschaft.
Stattdessen zielen sie auf „nachhaltigere Landbausysteme mit höherer
Flächennutzungseffizienz als im Ökolandbau” ab. Letzterer sollte nach
ihrer Expertise vor allem da gefördert werden, wo er einen besonders
hohen Nutzen hat, beispielsweise in den Roten Gebieten.
Darüber hinaus wird neben der Fortentwicklung des ökologischen Landbaus
auch die Etablierung von „Zwischenformen nachhaltiger Landbausysteme”
empfohlen, die bei höheren Erträgen hinsichtlich der Umweltleistungen
vergleichbar sind. In diesem Zusammenhang rät der Wissenschaftliche
Beirat zum Einsatz neuer Technologien in den Bereichen Robotik, Sensorik
und Genome Editing, die nach seiner Überzeugung neue Perspektiven für
eine nachhaltigere Ernährungssicherung eröffnen können.
Soziale Normen kalibrieren
Notwendig sind aus Sicht der Wissenschaftler außerdem eine
Informationskampagne zur Sensibilisierung der Verbraucher hinsichtlich
der Klimarelevanz tierischer Produkte sowie die verpflichtende Umsetzung
der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)
für die Gemeinschaftsverpflegung. Mögliche wirtschaftliche Verwerfungen
dieser Empfehlungen sollten beispielsweise durch eine
Transformationsstrategie zur Verbesserung der Wertschöpfung in der
Agrar- und Ernährungswirtschaft abgefedert werden.
Um den Konsum „wenig nachhaltiger” Produkte tendenziell zu dämpfen,
sollte nach den Vorstellungen der Beiratsmitglieder eine stufenweise
steigende Verbrauchssteuer auf alle zuckerhaltigen Getränke eingeführt
werden. Zum Schutz von Kindern sei die Werbung für Kinderprodukte
stärker zu regulieren. Um „Ernährungsarmut”, also die tendenziell
ungesündere Ernährung einkommensschwacher Haushalte, zu verringern, wird
die schrittweise Einführung einer beitragsfreien Kita- und
Schulverpflegung empfohlen. Darüber hinaus rät der Beirat, eine
nachhaltigere Ernährung über die „Kalibrierung sozialer Normen” als das
„New Normal” zu definieren. Dazu sollten beispielsweise kleinere
Portionen verfügbar gemacht und ein kostenloses Angebot an
Leitungswasser zum Standard gemacht werden.