Politik | 27. August 2020

Deutsche sollen weniger vom Tier essen

Von AgE
Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) hält es für unabdingbar, dass die Deutschen ihre Konsumgewohnheiten ändern. Zudem werde eine integrierte Politik für eine nachhaltigere Ernährung benötigt.
Als Mittel, um den Konsum tierischer Erzeugnisse zu vermindern, schlagen die Wissenschaftler unter anderem eine höhere Mehrwertsteuer vor.
Der  WBAE-Vorsitzende Professor Harald Grethe übergab am 21. August Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner das Gutachten zur „nachhaltigeren Ernährung”. Darin  stellt der Beirat fest, dass die bestehenden ernährungspolitischen Rahmenbedingungen aktuell „wenig nachhaltigkeitsförderlich” seien und Deutschland in dieser Hinsicht anderen europäischen, aber auch Drittländern hinterherhinke.
Beklagt werden  unter anderem eine zu starke Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum und die Vernachlässigung verfügbarer Unterstützungsinstrumente für eine nachhaltigere Ernährung. Vor diesem Hintergrund adressiert der Beirat mit Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl vier Felder, in denen nach seiner Einschätzung Veränderungen zugunsten einer nachhaltigeren Ernährungsweise erforderlich sind.
Bei der Steuer den Hebel ansetzen
Empfohlen werden unter anderem die Reduzierung des Konsums tierischer Erzeugnisse, auch durch eine höhere Mehrwertsteuer, ein mehrstufiges staatliches Tierschutzlabel mit tendenziell steigenden Anforderungen und eine nationale Nutztierstrategie.
Klöckner sieht viele der Vorschläge und Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats als „Rückenwind für die Ernährungspolitik” ihres Ministeriums an. Viele Empfehlungen des Beirats werden nach Auffassung der Ministerin bereits im Rahmen der nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung umgesetzt. Ziel sei es, entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette die Lebensmittelverschwendung bis zum Jahr 2030 deutlich zu reduzieren, im Handel und auf Verbraucherebene sogar zu halbieren.
Grethe sprach sich bei der Übergabe des Gutachtens für stärkere politische Steuerungsimpulse für die Unterstützung nachhaltigerer Konsumentscheidungen aus. Damit stößt er bei vielen Verbänden auf offene Ohren.
In der Wertschöpfungskette für Lebensmittel treten nach Einschätzung der WBAE-Wissenschaftler vermeidbare negative ökologische Effekte auf, insbesondere hinsichtlich Biodiversität, Stickstoffüberschüssen und Treibhausgasemissionen. In Sachen Tierwohl attestieren sie der deutschen Tierhaltung zwar „einige Einzelschritte” hin zu mehr Tierschutz, vermissen jedoch eine politisch legitimierte Strategie, die größere Fortschritte ermögliche.
In puncto Gesundheit monieren die Autoren des Gutachtens eine deutliche Korrelation zwischen Armut und ernährungsbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Unter sozialen Gesichtspunkten werden mögliche Defizite im Bereich der Saison- und Leiharbeit sowie in der Schlachtindustrie bemängelt. Der Beirat formuliert deshalb insgesamt neun Empfehlungen für die nach seiner Überzeugung notwendige Transformation der Ernährung.
Verpflichtendes Klimalabel
Eine „global verträgliche Ernährung” erfordert nach Überzeugung des Wissenschaftlichen Beirats „zwingend” einen Rückgang des „hohen Konsums” tierischer Produkte in wohlhabenden Ländern. Er plädiert deshalb unter anderem für die Abschaffung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für tierische Erzeugnisse und die Einführung einer „Nachhaltigkeitssteuer”, die beispielsweise zur Finanzierung der Transformation der Tierhaltung genutzt werden könnte.
Darüber hinaus sollte ein verpflichtendes Klimalabel für alle Lebensmittel eingeführt und die Nährwertkennzeichnung Nutri-Score möglichst EU-weit eingesetzt werden. Nicht zuletzt zur Verbesserung der Haltungsbedingungen spricht sich der WBAE für ein mehrstufiges staatliches Tierschutzlabel mit tendenziell steigenden Anforderungen aus, das in eine nationale Nutztierstrategie eingebunden werden sollte.
Nicht die gesamte Landwirtschaft umstellen
Die Wissenschaftler betonen in ihrem Gutachten den Nutzen des ökologischen Landbaus, plädieren aber gleichwohl nicht für eine Komplettumstellung der gesamten deutschen Landwirtschaft. Stattdessen zielen sie auf „nachhaltigere Landbausysteme mit höherer Flächennutzungseffizienz als im Ökolandbau” ab. Letzterer sollte nach ihrer Expertise vor allem da gefördert werden, wo er einen besonders hohen Nutzen hat, beispielsweise in den Roten Gebieten.
Darüber hinaus wird neben der Fortentwicklung des ökologischen Landbaus auch die Etablierung von „Zwischenformen nachhaltiger Landbausysteme” empfohlen, die bei höheren Erträgen hinsichtlich der Umweltleistungen vergleichbar sind. In diesem Zusammenhang rät der Wissenschaftliche Beirat zum Einsatz neuer Technologien in den Bereichen Robotik, Sensorik und Genome Editing, die nach seiner Überzeugung neue Perspektiven für eine nachhaltigere Ernährungssicherung eröffnen können.
Soziale Normen kalibrieren
Notwendig sind aus Sicht der  Wissenschaftler außerdem eine Informationskampagne zur Sensibilisierung der Verbraucher hinsichtlich der Klimarelevanz tierischer Produkte sowie die verpflichtende Umsetzung der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für die Gemeinschaftsverpflegung.  Mögliche wirtschaftliche Verwerfungen dieser Empfehlungen sollten beispielsweise durch eine Transformationsstrategie zur Verbesserung der Wertschöpfung in der Agrar- und Ernährungswirtschaft abgefedert werden.
Um den Konsum „wenig nachhaltiger” Produkte tendenziell zu dämpfen, sollte nach den Vorstellungen der Beiratsmitglieder eine stufenweise steigende Verbrauchssteuer auf alle zuckerhaltigen Getränke eingeführt werden. Zum Schutz von Kindern sei die Werbung für Kinderprodukte stärker zu regulieren. Um „Ernährungsarmut”, also die tendenziell ungesündere Ernährung einkommensschwacher Haushalte, zu verringern, wird die schrittweise Einführung einer beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung empfohlen. Darüber hinaus rät der Beirat, eine nachhaltigere Ernährung über die „Kalibrierung sozialer Normen” als das „New Normal” zu definieren. Dazu sollten beispielsweise kleinere Portionen verfügbar gemacht und ein kostenloses Angebot an Leitungswasser zum Standard gemacht werden.