Politik | 08. Juli 2021

Den Interessenausgleich schaffen

Von AgE
Die Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) fordert in ihrem Abschlussbericht, dass die mit der Transformation des Agrar- und Ernährungssystems einhergehenden finanziellen Lasten „gesamtgesellschaftlich und fair” aufgeteilt werden müssten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Dienstag den Abschlussbericht der Zukunftskommission Landwirtschaft entgegengenommen. Sie gestand dabei der Landwirtschaft Anspruch auf angemessene Entlohnung von Leistungen zu, die sie für die Gesellschaft erbringt.
Es gehe um einen Interessenausgleich zwischen Landwirtschaft, Umwelt- und Tierschutz, Wirtschaft und Verbrauchern. Steigende Produktionskosten infolge höherer Standards müssten den Landwirten mit öffentlichen Mitteln honoriert werden. Auf diese Weise könnten Produktionsverlagerungen in Länder mit niedrigeren ökologischen und sozialen Standards vermieden werden.
Umbau der Direktzahlungen
Die Zukunftskommission spricht sich für einen schrittweisen und vollständigen Umbau der Direktzahlungen im Laufe der nächsten zwei Förderperioden ab 2023 aus. Ziel seien Zahlungen, „die konkrete Leistungen im Sinne gesellschaftlicher Ziele betriebswirtschaftlich attraktiv werden lassen”. Dieser Prozess müsse möglichst stetig und in klar definierten Schritten verlaufen, um Planungssicherheit zu gewährleisten und Brüche zu vermeiden. Die ZKL hält außerdem eine Förderung nachhaltiger und gesunder Ernährungsstile für erforderlich. Dazu gehörten eine stärker pflanzlich orientierte Ernährung und eine Reduzierung des Konsums tierischer Produkte. Dies werde mit einer weiteren Verringerung der Tierbestandszahlen einhergehen, stellt die Kommission fest. Das Konzept der Borchert-Kommission für einen Umbau der Tierhaltung wurde in den Abschlussbericht übernommen.
Die ZKL hebt die Vorteilhaftigkeit kooperativer Ansätze im Umwelt-, Klima- und Tierschutz hervor. Einigkeit herrscht in der Einschätzung, dass Lebensmittel künftig teurer werden müssten.
Sozialpolitisch flankieren
Dies erfordere eine sozialpolitische Flankierung für einkommensschwache Haushalte.
Der Vorsitzende der Zukunftskommission Landwirtschaft, Professor Peter Strohschneider, hat den 170 Seiten umfassenden Abschlussbericht am Dienstag  an Bundeskanzlerin  Angela Merkel übergeben. Die Regierungschefin hatte die Kommission Ende 2019 als Reaktion auf die damaligen bundesweiten Bauerndemonstrationen eingesetzt. Ihr gehören rund 30 führende Köpfe von Verbänden und Organisationen aus der Agrar- und Ernährungswirtschaft, dem Umwelt- und Tierschutz, dem Verbraucherschutz sowie der Wissenschaft an. Die Landwirtschaft ist unter anderem mit dem Vizepräsidenten des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Werner Schwarz, und dem Präsidenten der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG), Hubertus Paetow, vertreten. Das Gremium hatte im September 2020 seine Arbeit aufgenommen. Den Angaben zufolge standen die Verhandlungen seither wiederholt vor dem Scheitern, bevor man sich am Beginn der vergangenen Woche nach einer Marathonsitzung im brandenburgischen Rangsdorf auf den Abschlussbericht einigen konnte.
Aufbruch
Nach teilweise jahrzehntelangen intensiven und emotionalen Auseinandersetzungen in Politik und Zivilgesellschaft sei es der ZKL gelungen, „einen gesamtgesellschaftlichen Aufbruch in die Zukunft der Landwirtschaft zu beschreiben”, erklärte Strohschneider. Nur wenn der Transformationsprozess als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werde, könne Nachhaltigkeit zum erfolgreichen Geschäftsmodell im Landwirtschafts- und Ernährungssystem werden und sich auch volkswirtschaftlich rechnen. „Ökologisch verantwortliche Landwirtschaft kann betriebswirtschaftlich attraktiv und volkswirtschaftlich vorteilhaft sein”, betonte der Kommissionsvorsitzende. Er verwies auf die großen Herausforderungen, mit denen die Landwirtschaft konfrontiert sei. Strohschneider nannte einen enormen Preisdruck, zunehmende Regulierungen, Preisbewusstsein, sinkende Anteile des Haushaltseinkommens für Lebensmittel, steigende Qualitätsanforderungen der Verbraucher sowie gesellschaftliche Forderungen nach Extensivierung.
Angesichts der vielfältigen Wechselwirkungen der Landwirtschaft mit Klima, Umwelt,
Biodiversität und Tierwohl sei „immer billiger” längst „zu teuer”. „Nicht oder zu langsam zu handeln, wird unbezahlbar”, warnte der Historiker. Für ihn hat die Kommission ihren Auftrag erfüllt. Nun liege es an der Politik, die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Ähnlich äußerte sich DBV-Vizepräsident Schwarz. Das von den unterschiedlichen Gruppierungen aus Landwirtschaft, Umwelt- und Tierschutz vorgelegte Konzept zeige einen gangbaren Weg in die Zukunft auf, erklärte Schwarz. Er hatte zuvor bereits gegenüber Journalisten eingeräumt, dass die Vorschläge der Zukunftskommission „Schmerz auf beiden Seiten” verursachten. Die Landwirtschaft werde vor allem durch den mit einer stärker pflanzenbasierten Ernährung einhergehenden Abbau von Tierbeständen vor große Herausforderungen gestellt. Die Umsetzung des Borchert-Konzepts sei ein erfolgversprechender Ansatz, darauf angemessen zu reagieren. Schwarz hob das Bekenntnis aller Beteiligten zum Produktionsstandort Deutschland hervor. Der gemeinsame Wille, eine Abwanderung von Teilen der Produktion aus Deutschland zu verhindern, habe unmittelbare Folgen für die möglichen politischen Instrumente. Dazu zähle die Einsicht, dass es für Landwirte ökonomisch attraktiv sein müsse, ökologische Leistungen zu erbringen.
Landwirte müssten durch unternehmerisches Handeln im Umwelt- und Klimaschutz Einkommen erzielen können, stellte DLG-Präsident Paetow fest. Agrarumweltmaßnahmen müssten zu Geschäftsmodellen werden.  Die Produktion von „Massengütern” könne künftig kein Geschäftsmodell sein.
Offenheit gegenüber Innovationen
Paetow hob die Einsicht aller Kommissionsmitglieder hervor, zunächst wenn möglich auf marktwirtschaftliche Instrumente zu setzen, um ökologische Ziele zu erreichen, bevor über ordnungsrechtliche Vorgaben nachgedacht werde.  Wichtig sei dabei die von der Zukunftskommission geforderte Offenheit gegenüber Innovationen in der Landwirtschaft. Als deutlichen Fortschritt wertete der DLG-Präsident eine differenzierte Betrachtung der neuen Züchtungstechniken. Laut ZKL können diese Technologien unter der Voraussetzung eine Option sein, dass die Wahlfreiheit für Erzeuger und Konsumenten gesichert ist und dem Vorsorgeprinzip Rechnung getragen wird.
„Wir schließen neue Züchtungstechniken unter den genannten Voraussetzungen nicht aus”, stellte der Präsident vom Deutschen Naturschutzring (DNR), Professor Kai Niebert, fest. Außer Frage stehe dabei, dass Innovationen generell einer Regulierung bedürften. Für Niebert stellt die Arbeit der Zukunftskommission den Beginn eines Prozesses dar, der mit der Vorlage des Abschlussberichts nicht sein Ende finden werde. Der DNR-Präsident machte deutlich, dass die Diskussionen für die Umweltverbände in Teilen schwierig gewesen seien. Man habe „mit eigenen Argumentationslinien brechen müssen”. Grundlegend sei die Feststellung der Zukunftskommission, dass große Teile der deutschen Landwirtschaft unter Weltmarktbedingungen nicht existenzfähig seien. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen beträfen die gesamte Lebensmittelkette und seien nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu bewältigen.
Die an der Zukunftskommission Landwirtschaft beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen die Mehrkosten, die zur Finanzierung des vorgeschlagenen Umbaus der Land- und Ernährungswirtschaft von Steuerzahlern und Verbrauchern aufgebracht werden müssen, auf fünf bis acht Milliarden Euro pro Jahr. Dieser Betrag werde sich bei der geplanten Umwandlung der EU-Direktzahlungen in die Honorierung öffentlicher Leistungen jedoch schrittweise verringern, erläuterte Professor Achim Spiller von der Universität Göttingen.
Nach seiner Einschätzung wird die Hälfte dieses Mittelbedarfs für ein verbessertes Tierwohl benötigt, die andere Hälfte für einen verbesserten Schutz von Biodiversität, Natur und Klima. Das seien anfänglich bis zu 100 Euro im Jahr für jeden Bürger. „Den meisten Menschen sind Tierwohl und eine intakte Natur diese Summe auch wert”, so Spiller. Einkommensschwache Haushalte würden allerdings kompensiert werden müssen, etwa durch eine Erhöhung von Hartz-IV-Sätzen oder direkte Transfers.
Anspruch auf verlässliche Rahmenbedingungen
Die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für den Umbau des Agrar- und Ernährungssystems in Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigt. Die Landwirtschaft habe Anspruch auf verlässliche Rahmenbedingungen, sagte die Kanzlerin bei der Entgegennahme des Abschlussberichts der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) am Dienstag  in Berlin. Sei diese Voraussetzung nicht erfüllt, werde sich niemand auf den Transformationsprozess einlassen.
Merkel betonte, dass Landwirtinnen und Landwirte keine Almosenempfänger seien. Sie brauchten stattdessen angemessene Entlohnung für Leistungen, die sie zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele erbringen würden. Zugleich bleibe die Ernährungssicherung zentrale Aufgabe, die nicht ohne eine leistungsfähige Landwirtschaft erfüllt werden könne.
Die scheidende Regierungschefin würdigte die Arbeit der Zukunftskommission und deren Abschlussbericht, der mögliche Wege für die Landwirtschaft der Zukunft aufzeige. Dabei würden auch klare zeitliche Perspektiven aufgezeigt, etwa für den Umbau der EU-Direktzahlungen. Der Bericht gebe insgesamt wegweisende und hilfreiche Impulse für die laufende gesellschaftliche Debatte. Es liege an der nächsten Bundesregierung, Schritte zur Umsetzung zu unternehmen.
Der Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Werner Schwarz, rief die Parteien dazu auf, die Ergebnisse des ZKL-Berichts in der kommenden Legislaturperiode auch in politische Entscheidungen einfließen zu lassen. Der Bericht sei eine Grundlage für den zukünftigen politischen Diskurs über Landwirtschaft. „Das kann die Politik, egal wer zukünftig regiert, nicht einfach ausblenden”, mahnte Schwarz. Die gemeinsam erreichten Ergebnisse seien zielführend und gäben den Betrieben eine Perspektive. Alle Teilnehmer der Kommission hätten deutlich gemacht, „dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, den Transformationsprozess der Landwirtschaft zu unterstützen und auch zu finanzieren”.
Der DBV-Vizepräsident bezeichnete den Abschlussbericht der ZKL als klare Übereinkunft, dass bei allem Willen zur Veränderung hin zu mehr Nachhaltigkeit der betriebswirtschaftliche Aspekt immer mit berücksichtigt werde. Das sei für die Betriebe enorm wichtig. Schwarz: „Nur wenn auf den Höfen Geld verdient wird, „können wir auch Umweltleistungen erbringen.”
„Es ist uns in der Zukunftskommission Landwirtschaft gelungen, nicht die Positionen, sondern die Sache ins Zentrum zu stellen”, erklärte der Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR), Professor Kai Niebert. Grundlage der erfolgreichen Arbeit in der ZKL sei das gemeinsame Interesse, den Klimawandel zu bremsen, den Verlust der Artenvielfalt zu stoppen und dabei eine vielfältige und zukunftsfähige Landwirtschaft zu ermöglichen. „Wir haben nicht alle Probleme gelöst, aber wir haben Wege aufgezeigt, wie diese Probleme gelöst werden können”, stellte Niebert fest.
Zustimmung überwiegt
Die Ergebnisse der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) sind von  Spitzenverbänden im Agrarbereich einhellig begrüßt worden. Der Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes (DRV), Franz-Josef Holzenkamp, sprach von einem „Meilenstein und Durchbruch in der gesellschaftspolitischen Diskussion über die Zukunft der Landwirtschaft”. Der Präsident des Industrieverbandes Agrar (IVA), Dr. Manfred Hudetz, sieht in den Empfehlungen der Kommission „ein starkes Signal an Politik und Gesellschaft für eine zukunftsfähige, produktive und nachhaltige Landwirtschaft”.  „Niemand kommt um die ökologische Transformation von Landwirtschaft und Ernährung herum”, betonte der Vorsitzende des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), Dr. Felix Prinz zu Löwenstein.
Bei den überwiegend an der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) beteiligten Umwelt- und Naturschutzverbänden stieß der  Bericht größtenteils auf Zustimmung. Kritik kam vor allem von der Umweltorganisation Greenpeace Deutschland, die sich im März unter Protest aus der Kommission zurückgezogen hatte, sowie von der Deutschen Umwelthilfe (DUH); beiden gehen die Empfehlungen nicht weit genug. Laut dem Vorsitzenden vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Olaf Bandt, kann der Bericht jedoch der erste Schritt auf dem Weg zu einem Gesellschaftsvertrag über eine zukunftsfähige Agrar- und Ernährungspolitik sein. Für den Präsidenten vom Naturschutzbund Deutschland (NABU), Jörg-Andreas Krüger, ist mit dem gemeinsamen Zielbild der ZKL für die Entwicklung des Agrarsektors „das Fundament für die Zukunft der Landwirtschaft gelegt”.