Pflanzenbau | 14. Februar 2022

Das Sterben der Streuobstbäume geht weiter

Von Dr. Walter Hartmann
Im November 2020 kam in der Zeitung Stuttgarter Nachrichten ein Bericht mit dem Titel: Wo sind all die Streuobstwiesen hin? Der Niedergang ist dokumentiert, wirksame Gegenmaßnahmen fehlen nach wie vor.
Überall im Land das gleiche Bild: Es ist geradezu erschreckend, wie viele Bäume in den letzten Jahren abgestorben oder am Absterben sind.
Der Hohenheimer Wissenschaftler Klaus Schmieder hat für das Jahr 2005 per Fernerkundung die Obstbäume im Land gezählt und kam nur noch auf eine Zahl von 7,1 Millionen. Im Jahr 1965 waren es noch 18 Millionen Bäume gewesen. Jedes Jahrzehnt sind damit in Baden-Württemberg zwei Millionen  verloren gegangen und der Zustand der noch vorhandenen Streuobstwiesen verschlechtert sich jährlich.
In den Jahren 2010 bis 2015 wurden die Bäume in den Streuobstwiesen von Filderstadt kartiert – das waren 250 ha. Auch wenn damals schon der Zustand zu wünschen übrig ließ, war doch noch ein Drittel der Bestände gut gepflegt. Innerhalb der letzten fünf Jahre hat sich der Zustand drastisch verschlechtert. So wollte ich vor kurzem von vier damals als erhaltenswert eingestuften Bäumen Edelreiser schneiden, traf aber nur noch einen Baum an, die anderen waren in der Zwischenzeit gerodet oder abgestorben. Wenn sich der an diesem Beispiel festgestellte Trend nicht aufhalten lässt, sind bis zum Jahr 2050 kaum noch Streuobstbäume vorhanden, meint Schmieder. Die Frage ist, wie lässt sich dieser Niedergang aufhalten? Bestimmt nicht mit dem neuen Insekten–Schutz-Gesetz, auch wenn es in den Medien jetzt heißt: Die Streuobstwiesen werden jetzt besser geschützt.
Für das Sterben der Streuobstbäume gibt es verschiedene Gründe. 
1. Es lohnt sich nicht
Das Obst ist nichts mehr wert, bleibt deshalb liegen und verfault.
Die Obstpreise sind zu niedrig, so dass eine Wirtschaftlichkeit nicht gegeben ist. Mit Preisen zwischen sieben und acht Euro je Dezitonne (dt) gibt es wenig Anreize, die Früchte aufzulesen und die Bäume zu pflegen. Zwar gibt es verschiedentlich im Land Streuobstinitiativen, die einen höheren Preis bezahlen, mengenmäßig ist deren Anteil allerdings zu gering, um positive Auswirkungen zu haben. Allgemein sind die Preise für landwirtschaftliche Produkte viel zu niedrig und decken nicht oder kaum die Kosten. Die Frage, wie man höhere Preise erzielen kann, und zwar nicht nur für Nischenprodukte, ist noch nicht zufriedenstellend beantwortetet, von der Möglichkeit der Durchsetzung ganz zu schweigen.
2. Die Pflege ist völlig unzureichend
So jung und doch schon ein Greis: Dieser Apfelbaum wurde durch Wühlmausfraß an seinen Wurzeln so nachhaltig geschädigt, dass aus ihm kein vitaler Hochstamm mehr werden kann.
Die Pflege der Streuobstbäume lässt in den meisten Regionen sehr zu wünschen übrig. Der Pflegezustand ist deshalb völlig unzureichend und hängt mit dem niedrigen Preisniveau zusammen. Etwa 80 Prozent der Bäume sind nicht oder nur noch unzureichend gepflegt, so steht es in der Broschüre „Neue Wege für die Streuostwiesen”, die im Jahr 2014 von der Staatlichen Naturschutzverwaltung in Baden-Württemberg herausgebracht worden ist. Weiter heißt es dort: „Aber weder die traditionelle Baumpflege und Obsternte noch die extensive Grünlandnutzung sind heute noch rentabel. Daher brechen heute fast überall Baumbestände zusammen und viele Grundstücke verwahrlosen und wachsen zu.” Seit dieser Feststellung sind sieben Jahre vergangen, es hat sich aber nur wenig getan und der Zustand hat sich noch drastisch verschlechtert.
Die Probleme beginnen schon bei den Jungbäumen. Durch Pflanzaktionen der Kommunen werden erfreulicherweise zwar jährlich Jungbäume gepflanzt, doch anschließend werden sie dann meist ihrem Schicksal überlassen. Es erfolgt kein Pflanzschnitt, die Notwendigkeit, die Baumscheibe in den ersten Jahren bewuchsfrei zu halten, ist heute auch ganz in Vergessenheit geraten. Auch gegen Mäuse und Wühlmäuse wird sehr wenig bis gar nichts unternommen. Betrachtet man die jungen Bäume nach der Pflanzung, so haben sie durch den Baumschuler zwar meist einen Rückschnitt bekommen – vor allem für den Transport −, dieser entspricht aber keineswegs dem empfohlenen Pflanzschnitt.
Oft unterbleibt der Pflanzschnitt auch ganz, die jungen Bäume bilden dann keine neuen Triebe, sondern setzen Blütenknospen an, beginnen mit dem Fruchten und vergreisen dann. Ein Erziehungsschnitt in den Folgejahren bleibt ebenso aus und die wichtige Bekämpfung von Blattläusen an den jungen Bäumen wird auch nicht durchgeführt, da der Pflanzenschutz in den Streuobstwiesen verpönt und in Zukunft verboten ist. Die Klimaerwärmung kommt den Blattläusen sehr entgegen, die Jungbäume sind deshalb immer stärker befallen. Ihre Triebspitzen verkrümmen und wachsen krumm und schief oder gar nicht mehr. Auch der Wassermangel in den letzten Jahren führte zusammen mit den anderen Faktoren dazu, dass die Bäume kaum mehr junge Triebe bilden und vergreisen. Aus solchen Bäumen entwickeln sich nie kräftige Bäume. Sie vegetieren so vor sich hin und gehen schließlich irgendwann ein. Nach meiner Einschätzung entwickeln sich in den meisten Regionen von zehn gepflanzten Bäumen nur noch zwei bis drei zu kräftigen, zukunftsfähigen Exemplaren. Der Sinn vieler Pflanzaktionen kann angesichts dieser ernüchternden Beobachtung deshalb hinterfragt werden. Sinnvoll wäre es, die Abnehmer der Bäume zu verpflichten, diese in den ersten vünf Jahren auch zu pflegen, dies führt aber nur zum Erfolg, wenn eine Kontrolle stattfindet.
Der Baumschnitt von Hoch- stämmen wird von der Landesregierung seit einigen Jahren gefördert, dies führt zu einem Anreiz, die Bäume wieder zu pflegen. Beinahe 8000 Akteure beteiligen sich derzeit an der seit 2015 ausgeschriebenen Maßnahme und pflegen etwa 400000 Streuobstbäume. Die Maßnahmen werden aber im gleichen Umfang für fünf weitere Jahre gefördert. Jährlich stehen dafür 3,3 Millionen Euro zur Verfügung. So anerkennenswert diese Maßnahme auch ist, flächenmäßig bringt sie nur wenig, denn sie betrifft nicht einmal sechs Prozent aller Bäume. Angesichts dieser Zahlen dürfte jedem klar werden, dass diese vom Land unterstützten Pflegemaßnahmen auch nicht wesentlich zur Bekämpfung der Mistel beitragen.
Eine andere Frage ist die, wie viele Leute den Baumschnitt noch beherrschen. Die Obst- und Gartenbauvereine geben zwar jährlich Schnittkurse. Tatsache ist aber: Vom Zuschauen lernt man nicht den Baumschnitt. Die Frage ist auch, wie viele Streuobstbesitzer noch in der Lage sind, auf die Bäume zu steigen. Die Besitzer der Streuobstwiesen werden immer älter und die nachfolgende Generation hat nicht die Zeit und oft auch nicht das Interesse an den Streuobstbäumen. Ein Baumschnitt durch Fremdkräfte, wie ausgebildete Baumpfleger oder Landschaftsgärtner, ist bei Stundenlöhnen von 50 bis 60 Euro nicht billig und bei den herrschenden Obstpreisen absolut unwirtschaftlich. In den letzten Jahren gibt es zahlreiche Initiativen, um diese Situation zu ändern, so zum Beispiel die Fachwartausbildung.
Vielerorts macht auch die Pflege des Unterwuchses Probleme, da die Milch- oder Fleischviehhaltung in der Fläche immer mehr zurückgeht und sich auf Großbetriebe konzentriert. Inzwischen gibt es immer mehr Ortschaften, in denen keine Rinderhaltung mehr stattfindet. Damit fehlt auch der Dünger für die Streuobstwiesen. Ganz anders sieht es noch in der Schweiz aus, so vertritt der Präsident des Schweizer Hochstammanbaus die Meinung, „ein Obstbau ohne Vieh ist nicht möglich”. Die Streuobstbestände dort bestätigen diese Meinung. Vor allem in den stadtnäheren Regionen wurden bei uns die Kühe durch Pferde ersetzt. Diese sind aber für die Bäume nicht ganz unproblematisch, vor allem wenn die Wiesen überweidet sind, was in betriebsnahen Obstbaumwiesen leider oft der Fall ist. Auf schweren Böden treten dann oft Verdichtungen auf, welche die Bäume schädigen. Für die Pferde spricht allerdings, dass durch die Beweidung wenigstens das Gras kurz gehalten wird. Auf der anderen Seite ist aber zu beobachten, dass das Gras immer später geschnitten wird und die Heuernte sich von Mitte Juni oft um einen Monat oder mehr verschiebt, da die Pferde nur älteres Heu vertragen. Diese späte Nutzung ist nicht, wie viele glauben, ökologisch ein Gewinn, weil die Pflanzen aussamen können. Im Gegenteil: Die konkurrenzstärkeren Gräser unterdrücken vielmehr Blumen und Kräuter. Auch der Grünspecht findet in diesem hohen Bewuchs nicht mehr seine geliebten Ameisen. Schädlich für Obstbäume ist aber auch die Tatsache, dass Mäuse und vor allem Wühlmäuse sich in diesen alten, hohen Grasbeständen wohlfühlen und die Bäume schädigen. Auch die Beweidung durch Schafe ist problematisch, wenn die Stämme nicht gegen Verbiss geschützt werden durch einen speziellen Schutz. Ein Problem in den Streuobstwiesen ist auch, dass vielfach das Gras direkt um den Stamm herum und unter den Bäumen nicht mehr abgemäht wird und sich mit der Zeit dort dann Brombeeren und verschiedene Waldbäume ansiedeln und die Flächen zu verbuschen beginnen. Solche Grundstücke nehmen in vielen Regionen von Jahr zu Jahr zu, ungeklärt ist die Frage: Wie verfährt man mit solchen Grundstücken?
3. Unterernährung
Auf den ersten Blick schön anzusehen: Die Massenvermehrung des gelb blühenden Klappertopfes ist aber ein Alarmzeichen für Nährstoffmangel.
Die meisten Streuobstbestände haben seit Jahrzehnten keinen Dünger mehr gesehen, oft ist dies auch schon seit einem halben Jahrhundert der Fall. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in diesen Beständen Nährstoffmangel herrscht. Schon vor circa 20 Jahren zeigten dies umfangreiche Bodenuntersuchungen in den Kreisen Göppingen und Pforzheim. Die Hauptnährstoffe Phosphor und Kalium waren zum Teil nur noch in so geringen Mengen vorhanden, dass diese an der Nachweisgrenze lagen. Seit dieser Zeit hat sich die Versorgung noch weiter verschlechtert. Zu erkennen ist dies im Frühjahr an den häufiger anzutreffenden Wiesen, auf denen der Klappertopf sich breitmacht. Dieser Halbschmarotzer zeigt einen gravierenden Nährstoffmangel an.
Mit Nährstoffen unterversorgte Bäume sind geschwächt und deshalb auch anfälliger gegen verschiedene Krankheiten wie zum Beispiel den Birnenverfall. Diese haben keinen Triebzuwachs mehr und bilden deshalb auch kaum noch neue Wurzeln aus. Die Nährstoffversorgung wird auf diese Weise noch weiter verschlechtert und außerdem wird die Wasserversorgung negativ beeinflusst, und so ist es kein Wunder, dass alle diese Faktoren dazu führen, dass in den letzten Jahren immer mehr Bäume absterben. Es ist geradezu erschreckend, wie viele Bäume in den letzten fünf Jahren abgestorben oder am Absterben sind.
Mit beigetragen zu diesem Zustand hat die pauschale Aussage, dass landwirtschaftliche Flächen überdüngt seien. Hier muss man aber differenzieren. Es gibt kaum Streuobstwiesen, die überdüngt sind, vor allem nicht mit Handelsdünger. Das Wort Düngung darf man kaum mehr in den Mund nehmen, vor allem, wenn es sich dabei um Mineraldünger handelt. Es muss aber erlaubt sein, die Frage zu stellen, woher soll organischer Dünger kommen, wenn die traditionellen Viehbestände gar nicht mehr vorhanden sind? Eine Düngung mit Gülle kann schnell zu einer Überversorgung mit Stickstoff führen. Außerdem können viele Streuobstwiesen durch ihre Lage mit den schweren Güllefässern nur schwer oder gar nicht befahren werden.
Krankheiten und Schädlinge
Auch Parasiten können grün sein: extremer Befall mit Misteln.
Verschiedene Schädlinge und Krankheiten schwächen unsere Bäume. Große Probleme haben wir seit einigen Jahren mit dem Birnenverfall. Diese Krankheit wird durch Phytoplasmen verursacht und in den Streuobstwiesen gibt es keine direkte Bekämpfungsmöglichkeiten. Die Befallshäufigkeit nimmt deshalb tendenziell zu. Meist schreitet die Krankheit langsam voran. Am Anfang bilden sich kleine, blassgrüne oder chlorotische, leicht eingerollte Blätter, die sich schon in den Sommermonaten rot färben – statt erst im Herbst. Das Triebwachstum wird gehemmt und in den folgenden Jahren kommt es zum langsamen Absterben der Bäume. In trockenen und heißen Jahren schreitet die Krankheit schneller voran. Besonders anfällig ist die hierzulande häufige Schweizer Wasserbirne betroffen.
Erreger aus derselben Gruppe der Phytoplasmen schädigen auch die Apfelbäume und verursachen die Apfeltriebsucht. Bei starker Symptomausbildung treten Kleinfrüchtigkeit und Wuchshemmungen auf. Auch hier ist eine immer stärkere Anfälligkeit zu beobachten, die auch von der Sorte abhängt. Besonders anfällig ist die beliebte Sorte „Topaz”. Die Früchte sind dann nicht nur kleiner, sie schmecken auch nicht. Der Befall ist bei beiden Obstarten nicht nur abhängig von der Sorte, sondern auch von der Unterlage. Die am meisten vorhandene Unterlage bei der Birne ist die Kirchensaller Mostbirne, leider ist diese sehr anfällig für Birnenverfall. Zum Glück gibt es jetzt bei Äpfeln und Birnen resistente Unterlagen, welche die Erreger im Winter nicht in die Wurzel einwandern lassen, so dass diese den Winter nicht überleben.
Zunehmende Probleme bereitet beim Apfel auch der Mistelbefall. Die immer stärkere Vernachlässigung der Pflege ist die wichtigste Ursache. Früher wurden die Misteln regelmäßig bei den Routineschnitten von den Bäumen entfernt. Inzwischen setzen die geringere Vitalität der Bäume und der Trockenstress die normalerweise vorhandene Widerstandskraft der Bäume gegen den Befall herab. Auch die Klimaerwärmung fördert die Misteln, vor allem durch bessere Keimbedingungen und den zunehmenden Stress der Bäume. In der Zwischenzeit dürften im Land schon Tausende von Apfelbäumen durch die Schädigung der Mistel eingegangen sein. Wenn es nicht bald einschneidende Maßnahmen gegen diese Parasiten gibt, dürfte dies in einer Katastrophe enden. In der Zwischenzeit sind auch schon die ersten Misteln auf Birnbäumen und sogar auf Zwetschgenbäumen gesichtet worden.
Auch tierische Schädlinge treten immer häufiger auf. Erwähnt sei nur die Apfelgespinstmotte, welche in manchen Regionen wiederholt zu einem völligen Kahlfraß der Bäume führt.
Der Feldmausbefall wird ebenfalls immer mehr zu einem Problem. Dazu tragen vor allem auch die trockenen Jahre bei. Selbst 2021 war ein sehr hoher Mäusebesatz zu beobachten. Besonders schädlich kann dieser werden, wenn Schnee die Flächen überdeckt. Unter dem Schnee sind die Mäuse vor Raubvögeln geschützt und sind dann eine Gefahr vor allem für jüngere Bäume, weil sie die Rinde direkt über den Boden abnagen und die Bäume somit ringeln. In den meisten Fällen führt das zum völligen Absterben.