Politik | 10. März 2022

„Wir wollen einfach der Bevölkerung helfen und den Krieg beenden”

Von AgE
Die ukrainische Agrarwirtschaft steht geschlossen hinter der Kiewer Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj. Produktion und Nachschub an Lebensmitteln gestalten sich aber kriegsbedingt extrem schwierig.
Durch den Krieg ist in der Ukraine nichts mehr wie es einmal war. Wie die kommende Getreideernte ablaufen kann und wie sie ausfällt, ist völlig unklar. Zumal dies genauso für die anstehende Frühjahrssaat gilt.
Das betonte Dr. Alex Lissitsa, CEO des Agrarbetriebes IMK, der mit einer bewirtschafteten Fläche von 120000 ha und einer Rohmilchproduktion von jährlich 4200 t zu den zehn größten Agrarbetrieben der Ukraine zählt. Er selbst sei von der Regierung beauftragt, die Bevölkerung mit Lebensmittlen zu versorgen. Dabei gehe es niemandem um Geld oder irgendwelche Privatinteressen. „Wir wollen einfach der Bevölkerung helfen und den Krieg beenden”, so der Agrarökonom, der an der Berliner Humboldt-Universität promoviert hat und deshalb über ausgezeichnete Kontakte nach Deutschland verfügt.
Der Nachschub an Lebensmitteln gestalte sich aber extrem schwierig, weil die großen Städte zum Teil durch die vorrückenden russischen Truppen abgeschnitten seien, berichtete Lissitsa am 2. März bei einer Informationsveranstaltung zu den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die internationalen Agrarmärkte, die Professor Sebastian Lakner von der Universität Rostock organisiert hatte. In Kiew gebe es zwar noch Lebensmittel; im Norden der Hauptstadt sei die Versorgungslage aufgrund der anhaltenden Kämpfe aber katastrophal. Zudem verschlechtere sich die Lage von Tag zu Tag.
Milch muss weggeschüttet werden
Auf den Betrieben von IMK läuft nach Angaben von Lissitsa nur noch das Allernötigste. Von den insgesamt 2000 Mitarbeitern seien aktuell nur noch gut 200 auf den Hofstellen. Alle anderen Mitarbeiter seien im Krieg oder bei der Verteidigung von Dörfern und Städten eingesetzt. Die ermolkene Milch müsse entweder verfüttert oder sogar weggeschüttet werden, da die Transportwege zu den Molkereien unterbrochen seien. Viele Tiere seien inzwischen stark abgemagert oder bereits verendet. Deshalb werde es vermutlich schwierig, die Milchproduktion nach Ende des Krieges schnell wieder aufzubauen.
Die Verbindung zu vielen Mitarbeitern sei mittlerweile abgerissen, was es schwierig mache, sich ein aktuelles Bild der Lage zu machen, erklärte der Agrarökonom. In der Feldwirtschaft waren die Vorbereitungen für die Frühjahrsaussaat ihm zufolge gerade abgeschlossen. Ans Drillen sei mangels Personal und Diesel aber überhaupt nicht zu denken. Zum Teil habe IMK der ukrainischen Armee Treibstoff zur Verfügung gestellt.
Wo die Russen bereits vorgerückt seien, habe man diesen auch verbrannt. Zuletzt hat sich Lissitsa in der ostukrainischen Stadt Sumy mit rund 220000 Einwohnern aufgehalten, von wo aus er alle Aktivitäten koordiniert.
Den Bedingungen irgendwie trotzen
Derweil versuchen auch andere landwirtschaftliche Betriebe in der Ukraine, den kriegsbedingt extrem schwierigen Rahmenbedingungen zu trotzen. Niederländische Ackerbauern mit Betrieben in der Ukraine berichteten vergangene Woche, sie würden bei der Gestaltung ihres Anbauprogramms vor allem auf die Minimierung der Kosten für Betriebsmittel wie Diesel, Dünger und Pflanzenschutzmittel achten. Diese seien nämlich sehr knapp oder gar nicht mehr verfügbar. Wie die Landwirte auf eigenen Blogs und gegenüber niederländischen Fachmedien im Einzelnen erklärten, werden deshalb Kulturen, die viel Mineraldünger und Pflanzenschutzmittel benötigen, aus dem Anbauplan genommen. Die Produktion von Mais und Zuckerrüben werde eingeschränkt – zugunsten der Erzeugung von Weizen und Sojabohnen. Unterdessen wurden den Landwirten zufolge Mitarbeiter zum Militärdienst einberufen. Deshalb drohe nun auch ein Mangel an Arbeitskräften. Zudem seien Personen- und Lastkraftwagen für den Zivilschutz angefordert worden. Bei der Vermarktung von Ware aus der alten Ernte gebe es ernste logistische Probleme; beispielsweise sei die Bahnlinie zum Hafen in Odessa blockiert.
Der von Russland in der Ukraine angezettelte Krieg zieht auch die dortige Düngerproduktion schwer in Mitleidenschaft. Nach Informationen des Fachmagazins „Fertilizer Daily” stand mit dem Unternehmen Cherkasy Azot einer der größten ukrainischen Düngerhersteller vor der Schließung. Der Betrieb im Cherkasy Oblast etwa 100 km südöstlich von Kiew beschäftigt 6000 Mitarbeiter und verfügt über eine Produktionskapazität von jährlich rund drei Millionen Tonnen Stickstoffdünger, darunter Ammoniumnitrat und Harnstoff. Die Produktionsanlage im Hafen von Odessa mit einer Kapazität von gut einer Million Tonnen Ammoniak und 600000 Tonnen Harnstoff soll die Arbeit bereits eingestellt haben. Grund ist dem Fachmagazin zufolge der Wegfall russischer Vorprodukte. Angesichts der desolaten Datenlage sind solche Meldungen mit Vorsicht zu genießen.
Klar ist dennoch, dass der Krieg die Lieferketten in allen Branchen der ukrainischen Wirtschaft schwer stört oder bereits unterbrochen hat.