Land und Leute | 16. April 2014

Seelisch Kranken eine Heimat bieten

Von Gisela Ehret
Der Emmendinger Verein Verse vermittelt psychisch kranke Menschen in Gastfamilien. Damit sollen lange Klinik- oder Heimaufenthalte vermieden werden. Das Leben im familiären Umfeld gibt den Patientinnen und Patienten ein Stück Normalität.
„Wie war’s bei der neuen Ärztin?”, fragt Barbara Flaccus. „Sie will die Medikamente umstellen”, antwortet Karin Meier (Name von der Redaktion geändert). „Sie meint, Tabletten einnehmen liegt mir nicht, alle vier Wochen eine Spritze ist besser.” Gastmutter Cornelia Bührer ergänzt: „Sie hat sich wirklich viel Zeit genommen, wir waren eine Dreiviertelstunde drin.”
Flaccus ist Sozialpädagogin beim Verein zur Förderung seelisch Behinderter und Kranker Emmendingen, kurz „Verse”. Der Verein vermittelt psychisch kranke Menschen in Gastfamilien – „Begleitetes Wohnen in Familien” nennt sich dieses Angebot. Gerade besucht Flaccus eine Klientin bei Cornelia und Dieter Bührer in Freiamt.  Karin Meier wohnt seit Mitte Januar bei Bührers. Nach dem letzten Klinikaufenthalt hat sie hier ein neues Zuhause gefunden. Sie ist 62 Jahre alt und leidet seit langer Zeit an Schizophrenie – einer Krankheit, die mit Realitätsverlust einhergeht.
Gemeinsam den Alltag bewältigen
Karin Meier (links) hat bei Dieter und Cornelia Bührer eine neue Heimat gefunden. Sozialpädagogin Barbara Flaccus (2. v. r.) besucht sie regelmäßig und begleitet die Familie.
Bei ihr zeigt sich dies im Alltag vor allem durch die Überzeugung, dass von Stromleitungen eine Gefahr ausgeht. Außerdem kann sie nicht für sich selber sorgen. Würde sie nicht in einer Familie leben, die ihren Tagesablauf strukturiert, so würde sie verwahrlosen und vereinsamen. Im Alter von 40 Jahren wurde Karin Meier aufgrund ihrer Erkrankung frühverrentet. Dennoch ist sie nicht so beeinträchtigt, dass eine permanente Aufsicht in einem Heim notwendig wäre.
Das Familienleben ist etwas ganz Neues für Karin Meier. Die Bührers haben drei Kinder, von denen zwei schon aus dem Haus sind. Dieter Bührer hat im Jahr 2001 seine eigene Schreinerei aufgemacht. Cornelia Bührer kümmert sich um die Buchhaltung und organisiert Betrieb und Haushalt. Auch Sohn Benjamin arbeitet in der Schreinerei mit. Außerdem wohnt die Oma mit im Haus. Für Karin Meier ist das viel Wirbel am Stubentisch. „Manchmal schalte ich ab”, sagt sie. Eigentlich wollte sie in eine Einrichtung für Senioren gehen, aber jetzt ist sie froh, hier untergekommen zu sein. Bei Familie Bührer hat sie viel mehr Freiheiten – sie frühstückt, wann sie möchte, sie malt, manchmal geht sie spazieren oder ins Café. Der Verein Verse betreut aktuell 47 psychisch kranke Menschen im Landkreis Emmendingen und der Stadt Freiburg. Die meisten kommen aus der Psychiatrischen Klinik, aus einem Wohnheim oder vom ambulant betreuten Wohnen. Sie sind nicht fähig, ihren Alltag alleine zu meistern. Sie brauchen zum Beispiel Unterstützung bei der Körper- und Wäschepflege, bei Arztbesuchen oder der Einnahme von Medikamenten.
Geborgenheit und Zugehörigkeit
Viele leiden an einer Form von Schizophrenie wie Karin Meier, andere haben Persönlichkeitsstörungen, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen. Ob sich jemand für das Begleitete Wohnen eignet, hängt vom Schweregrad der Erkrankung ab. Gewalttätige, Sexualstraftäter, akut Suizidgefährdete und Menschen mit akuter Suchtproblematik werden nicht in Familien vermittelt. Für ältere, chronisch kranke Patienten wie Karin Meier bietet die Gastfamilie vor allem eine Heimat. Bei jüngeren Menschen kann das begleitete Wohnen auch ein erster Schritt zurück zur Selbständigkeit sein. Die Betroffenen kommen in Familien, aber auch bei Paaren oder in Single-Haushalten unter. Wichtig ist vor allem, dass die Chemie stimmt: Gleiche Interessen, ähnliche Lebenseinstellungen. Die Gäste sollen im Gast-Haushalt Aufgaben übertragen bekommen: Blumen gießen, Holz reinholen, Wäsche bügeln. Denn so erfahren sie Wertschätzung – ein Aspekt, der neben dem strukturierten Alltag, der Geborgenheit und der Zugehörigkeit zu einem „normalen” Umfeld Teil der Therapie ist. Haushalte, die einen Gast aufnehmen wollen, sollten bodenständig sein und eine positive Lebenseinstellung haben. „Nur wer selber stabil ist, kann dem Gast auch Stabilität bieten”, erklärt Barbara Flaccus. Alle Haushaltsangehörigen müssen mit dem Gast einverstanden sein, ihn so akzeptieren, wie er ist, und seine Krankheit verstehen und anerkennen.
Cornelia Bührer ist eine herzliche Frau. Ab und zu berührt sie ihre neue Mitbewohnerin liebevoll am Arm. Hier wird viel gelacht und miteinander geredet. Zeit für die Familie zu haben und dabei auch mal Fünfe gerade sein zu lassen, ist den Bührers wichtig. „Wir sind schon immer mit den Kindern lange am Mittagstisch gesessen”, sagt Dieter Bührer. „Dann ist man eben mal eine Stunde später wieder an die Arbeit gegangen.” In der Familie hat Karin Meier einen lebhaften, aber keinen hektischen Alltag. Sie darf überall dabei sein, sie muss aber nicht.
Tipp von einer Landfrau
Dem Ehepaar Bührer war das Haus nach dem Auszug der Söhne zu leer. Eine Bekannte bei den Landfrauen machte Cornelia Bührer dann auf den Verein Verse aufmerksam. Karin Meier ist ihr erster dauerhafter Gast. Cornelia Bührer fährt sie zum Zahnarzt und achtet darauf, dass sie ihre Medikamente regelmäßig nimmt. Sie putzt mit ihr gemeinsam das Zimmer und sorgt dafür, dass sie regelmäßig etwas isst. Wenn es Karin Meier schlechter geht, ist sie die Ansprechpartnerin, die verhindert, dass sie sich zu sehr zurückzieht.
Regelmäßige Betreuung
Alle zwei Wochen kommt Barbara Flaccus vorbei und sieht nach der Familie und ihrer Klientin. Bei Verse arbeiten fünf Sozialpädagogen und Sozialarbeiter. Auf eine Vollzeit-Stelle kommen zwölf betreute Klienten. „Auch wenn alles gut läuft, ist es wichtig, die Familien regelmäßig zu besuchen, um nichts zu verpassen”, sagt Barbara Flaccus. Die Besuche richten sich nach dem Bedarf, außerdem sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter telefonisch erreichbar. Für den Notfall gibt es die Telefonnummern des Psychiatrischen Krisenmanagements. In regelmäßigen Abständen sprechen die Sozialpädagogen sowohl mit der Familie als auch mit dem Klienten unter vier Augen, um Unstimmigkeiten aus dem Weg zu räumen. Beispielsweise sind die psychisch Kranken oft antriebslos. „Das ist besonders für aktive Familien schwer auszuhalten”, weiß Barbara Flaccus.
Karin Meier ist eine ruhige und angenehme Mitbewohnerin. Die ersten Wochen verliefen problemlos. „Manchmal muss ich nachschauen, ob sie überhaupt noch da ist”, sagt Cornelia Bührer. Ihr Mann ergänzt: „Man bemerkt sie gar nicht. Sie könnte eher noch ein bisschen aktiver werden.” „Finden Sie das auch?”, fragt Flaccus Karin Meier. „Ja, ein bisschen. Aber ich habe wieder angefangen zu häkeln, ich mache einen Topflappen.” „Den zeigen Sie mir dann beim nächsten Mal”, sagt Barbara Flaccus zum Abschied.
Begleitetes Wohnen in Familien: Am Anfang steht das Probewohnen
Das Begleitete Wohnen in Familien für psychisch kranke Menschen hat eine lange Tradition und ist seit den 80er-Jahren wieder stärker im Kommen. Es läuft als ambulantes Angebot der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Sie sollen etwa nach einem Klinikaufenthalt lernen, sich mithilfe der Familie wieder besser zurechtzufinden. Das Landratsamt zahlt für jeden Klienten eine Pauschale. Gastfamilien bekommen für die Betreuung, Versorgung und Unterkunft rund 830 Euro Aufwandsentschädigung im Monat. Sie haben im Jahr vier Wochen Urlaubsvertretung zur Verfügung. In dieser Zeit kommt der Gast in einer anderen Familie unter. Es gibt auch die Möglichkeit, nur als Urlaubs-Gastfamilie an dem Programm teilzunehmen.
Der Verein Verse betreut Familien im Kreis Emmendingen und der Stadt Freiburg. Einzelpersonen oder Familien, die ein freies Zimmer oder eine Einliegerwohnung haben und sich vorstellen können, einen psychisch Kranken langfristig im Alltag zu unterstützen, können sich bei Verse melden. Nach der Kontaktaufnahme und einem Erstgespräch kommt der potenzielle Gast für ein paar Tage zum „Probewohnen”. Nach dieser Zeit können beide Seiten entscheiden, ob sie zueinander passen. Auch die Caritasverbände Breisgau-Hochschwarzwald, Hochrhein (Waldshut), Rastatt und Lörrach bieten Begleitetes Wohnen in Familien an. In der Region um Konstanz kümmert sich der Verein woge um das Begleitete Wohnen.