Land und Leute | 18. August 2016

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Von Robert Ullmann
In Europa wohl einzigartig ist das Deutsche Epilepsiemuseum Kehl-Kork. Es berichtet über die spannende Geschichte der einst als Teufelswerk gebrandmarkten Krankheit. Im selben Haus zeigt das Handwerksmuseum, wie stark früher der Wohlstand der Dorfgemeinschaft am Gelingen der Landwirtschaft hing.
Mit solch einem Gerät wurden in den 50er- und 60er-Jahren Gehirnströme gemessen, um auf die Spur von Störfeldern oder Narben in der Gehirnrinde zu kommen, die Epilepsie verursachen können
Wie hat ein Dorf zur Urgroßelternzeit „funktioniert”?  Das Handwerksmuseum Kork  mit 1750 Quadratmetern Ausstellungsfläche für über ein Dutzend alte Berufe ist eines der umfangreichsten und schönsten seiner Art. Es zeigt nicht nur über ein Dutzend teils ausgestorbener Handwerksberufe. Der Rundgang macht auch deutlich, wie eng Dorfleben, Handwerk und Landwirtschaft miteinander verbunden waren.So stellte der Sattler vor allem ledernes Zuggeschirr her. Es war eine Zeit, in der noch mit Pferden und Ochsen gepflügt und die Feldfrüchte per Pferdewagen und Ochsenkarren transportiert wurden. Oder der Schmied, der neben Hufeisen all die Metallgeräte fertigte, die auf einem Hof gebraucht wurden: Hacken, Schaufeln, Rechen, zur Bodenlockerung genutzte Karsten und natürlich die Pflugschar.
Einer der wichtigsten Handwerker war der Wagner, auch Stellmacher genannt. Im Museum ist die komplette Werkstatt von Johann Lubberger zu sehen, dem letzten Wagner von Kork. Ein Wagner baute nicht nur Räder, Heuwagen oder Schubkarren. Er stellte auch Stiele für Äxte, Rechen, Sensen, Hacken her, generell alles, was aus Holz und wichtig für die Landwirtschaft war. An der Wand seiner Werkstatt sind all die verschiedenen Stiel-Arten zu sehen. 
Der auffälligste Gegenstand ist eine mächtige eiserne Hobelbank. „Sie wiegt fast eine Tonne”, sagt Hans-Peter Schimpf. Er ist der Vorsitzende der „Lesegesellschaft 1821 Kork”, des Trägervereins des ehrenamtlich betriebenen Museums. Um die Hobelbank aufstellen zu können, musste der Boden des Raums verstärkt werden. Auf ihr liegt ein Auftragsbuch – das von Johann Lubberger. Darin sind alle Kunden verzeichnet mit allen ausgeführten Arbeiten, ebenso alle Material-Einkäufe, die der Wagner für seine Werkstatt machte. „Alles musste genau aufgezeichnet werden”, erklärt Schimpf. Denn bezahlt wurde einmal im Jahr, in der Regel gegen Jahresende, etwa am Stephanstag, dem Zweiten Weihnachtsfeiertag – der Heilige Stephan ist der Schutzpatron der Handwerker und Zimmerleute. Schimpf erklärt: „Erst wenn die Ernte eingebracht, Obst, Korn und Mastvieh verkauft waren, hatten die Landwirte Geld.” Hatte der Wagner kassiert, bezahlte er seinerseits alle Lieferanten. Mit dem, was übrig war, musste dann ein ganzes Jahr gewirtschaftet werden.
Fast alle Werkstätten sind „Originale”, die meist von den früheren Meistern oder deren Nachkommen dem Museum überlassen wurden.
Auch die Werkstatt von Jakob Örtel, Weber in Kork, ist weitgehend original eingerichtet, mit dem Webstuhl im Zentrum. Sie ist ergänzt um Modelle, anhand derer deutlich wird, wie aus Hanf und Lein  Fasern gewonnen wurden: Die Pflanzenschäfte wurden gebrochen und die Fasern mit Hanfkämmen durchgebürstet, um die holzigen Stielteile zu entfernen. Erst danach konnte man spinnen und die Fäden verweben.
Auch die Arbeit des Seilers wird in diesem Raum dargestellt. Die in Kork angefertigten Seile wurden teils exportiert – als Taue für die Schifffahrt. Unmittelbar neben der Weberwerkstatt ist die des Färbers – ein kleines Fest fürs Auge, mit all den wunderschönen Mustern. Tiefes Rot und ein leuchtendes Blau sind die häufigsten Farben. Schimpf: „Man findet sie oft bei den Trachten, und fast immer bei der Militärkleidung aus jener Zeit, weil sie leicht herzustellen waren.”  Färberwaid und Krapp – Pflanzen, aus denen man Blau und Rot gewann – seien früher um Kork herum sehr viel angebaut worden.
Das Bild zeigt den Webstuhl des letzten Webers von Kork
Es gibt Dinge zu sehen, deren Bedeutung in Vergessenheit geraten ist:  etwa der Kummetleisten. Auf ihm fertigte der Sattler früher den Kummet an, das Halsgeschirr für Zugtiere. Oder – in der Werkstatt des Malers – Lasier- und Marmoriertechniken, die heute allenfalls noch Restaurateure beherrschen. Hoch interessant ist die Fachwerk-Sammlung des Museums, mit rund zwei Dutzend Hanauer Kniestockhäusern in Modellform – originalgetreu nachgebaut inklusive der Holznägel. Es handelt sich um Häuser, die es in Kork tatsächlich gibt. Sehenswert ist auch die Sammlung alter Wirtshausembleme.
Valentin: Fall net hin
Das oberste Stockwerk des denkmalgeschützten Gebäudes – eine frühere Brauerei – ist einem in Europa einzigartigen Projekt vorbehalten: dem Deutschen Epilepsiemuseum. Gegründet wurde es 1998 durch den Arzt Dr. Hansjörg Schneble, der viele Jahre das Epilepsiezentrum Kork leitete. Schneble hat Gesetze, Darstellungen, Behandlungsmethoden und viele weitere Informationen zur Epilepsie aus 3700 Jahren zusammengetragen. Ältestes Dokument ist ein Gesetzestext aus Babylon, in dem diese Krankheit als Grund für Arbeitsunfähigkeit anerkannt wird. Zur Vergangenheit kommt die Gegenwart: Wie wird Epilepsie heute behandelt? Bei 0,5 bis einem Prozent aller Menschen treten spontan epileptische Anfälle auf. Damit ist Epilepsie etwa so häufig wie Gelenkrheuma. Teils galt sie als „Heilige Krankheit”. Man glaubte, der oder die Betroffene erhalte bei einem Anfall eine Botschaft höherer Mächte. Zu anderen Zeiten galt sie als Krankheit des Teufels. Im Mittelalter sind Epileptiker immer mit dem Heiligen Valentin dargestellt. Er wurde zum Patron der „Fallsüchtigen”, aufgrund der Namensähnlichkeit: Valentin klingt wie „fall net hin”.
In der Alpenregion heißt die Krankheit „die Fraisen”. In einer Vitrine sind „Fraisenkappen” mit dem Bild des Heiligen Valentin aufbewahrt. Bei einem „Grand Mal”, dem großen Anfall, wenn der Patient starr und verkrampf zu Boden fällt, hat man ihm die Kappe aufgesetzt. Der Heilige sollte die Krankheit bannen. „Häufig mit Erfolg”, wie Schneble ausführt, „weil nämlich der Anfall nicht länger als drei, vier Minuten dauert. Das heißt, er hätte so oder so gleich aufgehört. Aber man schrieb die Heilung der Macht Sankt Valentins zu.”
Hansjörg Schneble zeigt im Epilepsiemuseum die Prominentengalerie: Erzherzog Carl von Österreich und Kaiser Napoleon, Kontrahenten in den napoleonischen Kriegen, waren – allerdings zu unterschiedlichen Zeiten – zu Gast in Kork. Beide waren Epileptiker.
Durch das EEG hat sich die Diagnostik stark verbessert wie auch die Möglichkeit, die Krankheit zu heilen oder ihren Verlauf zu mildern. In manchen Fällen ist sie sogar operierbar. Das Gegenüber von EEG-Hauben aus den 1960ern und modernen Geräten zeigt den unglaublichen Fortschritt der Medizin. Eine Galerie zeigt Kunstwerke von Epileptikern und solche, die das Thema darstellen. Was man unbedingt sehen sollte: Die Galerie der berühmten und genialen Epileptiker: Sie reicht von Cäsar über Vincent van Gogh bis zu Napoleon und dem Dichter Fjodor Dostojewksi. Auch Heinrich Hansjakob, der größte Ortenauer Heimatschriftsteller, gehört dazu – sowie heutige Berühmtheiten: DJ Ötzi, der Rockstar Neil Young oder Whistleblower Edward Snowden.
 
Die Museen in Kork
Handwerksmuseum und Deutsches Epilepsiemuseum befinden sich in der Oberdorfstraße 8. Geöffnet sonntags 14 bis 17 Uhr, außer im August, wobei auch dann ausnahmsweise unter der Woche ein Besichtigungstermin mit Helmut Schneider vereinbart werden kann, Telefon 07851/ 1829. Wer eine Führung speziell durch das Epilepsiemuseum wünscht, darf sich an Hansjörg Schneble wenden, Telefon 0781/948 3787. Das Museum ist barrierefrei zugänglich mit Ausnahme des Dachgeschosses. Kork liegt an der Bahnstrecke Offenburg-Appenweier-Kehl. Das Museum ist vom Bahnhof aus über die Gerberei- und die Zirkelstraße, von der die Oberdorfstraße abzweigt, in etwa zehn Minuten Fußmarsch zu erreichen. Außerdem hält der Bus Linie 7136 in der Oberdorfstraße.