Politik | 07. November 2019

TU München: Insektenrückgang noch stärker

Von AgE
Der Insektenrückgang ist offenbar weitreichender als vermutet. Auf vielen Flächen tummeln sich heute etwa ein Drittel weniger Insektenarten als noch vor einem Jahrzehnt. Das geht aus einer Untersuchung unter Leitung der Technischen Universität München (TUM) hervor.
Betroffen vom Insektenschwund sind laut TUM alle untersuchten Wald- und Wiesenflächen: Schafweiden, Wiesen, die drei- bis viermal jährlich gemäht und gedüngt worden seien, forstwirtschaftlich geprägte Nadelwälder und sogar ungenutzte Forste in Schutzgebieten.
Laut der Untersuchung eines internationalen Forscherteams, deren Ergebnisse in der vergangenen Woche vorgestellt wurden,  sind vom Artenschwund vor allem Wiesen betroffen, die sich in einer stark landwirtschaftlich genutzten Umgebung befinden, aber auch Wald- und Schutzgebiete.
Der Hochschule zufolge haben die Forscher zwischen 2008 und 2017 auf 300 Flächen in Brandenburg, Thüringen und Baden-Württemberg mehr als eine Million Insekten gesammelt. Sie hätten nachweisen können, dass viele der fast 2700 untersuchten Arten rückläufig seien. Einige seltenere Arten seien in den vergangenen Jahren in manchen der beobachteten Regionen gar nicht mehr gefunden worden. Sowohl auf Waldflächen als auch auf Wiesen hätten die Forscher nach zehn Jahren etwa ein Drittel weniger Insektenarten gezählt.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner sicherte eine „sehr genaue” Prüfung der Ergebnisse der TUM-Studie zu. Der Deutsche Bauernverband (DBV) und der Industrieverband Agrar (IVA) hoben die Leistungen der Landwirte für die Biodiversität hervor. Bündnis 90/Die Grünen und Umweltschutzorganisationen zeigten sich besorgt.
Mehr Abstimmung notwendig
Die Wissenschaftler stellten laut TUM zudem fest, dass die Biomasse der Insekten in den untersuchten Wäldern seit 2008 um etwa 40 Prozent zurückgegangen sei; im Grünland habe sich die Insektenbiomasse auf nur noch ein Drittel ihres früheren Niveaus verringert.
Der Initiator des Projekts, Professor Wolfgang Weisser, bezeichnete den Rückgang als „erschreckend”, der so nicht erwartet worden sei, aber in das Bild von immer mehr Studien passe. Betroffen seien alle untersuchten Wald- und Wiesenflächen: Schafweiden, Wiesen, die drei- bis viermal jährlich gemäht und gedüngt worden seien, forstwirtschaftlich geprägte Nadelwälder und sogar ungenutzte Forste in Schutzgebieten.
Den größten Schwund hätten die Forscher auf Grünlandflächen festgestellt, die in besonderem Maße von Ackerland umgeben seien. Dort hätten vor allem die Arten gelitten, die nicht in der Lage seien, große Distanzen zu überwinden. Dr. Sebastian Seibold,  Forscher am Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie der TUM, wies darauf hin, dass aktuelle Initiativen gegen den Insektenrückgang sich viel zu sehr um die Bewirtschaftung einzelner Flächen kümmerten und weitestgehend unabhängig voneinander agierten. Um den Rückgang aufzuhalten, seien ausgehend von den jetzigen Ergebnissen eine stärkere Abstimmung und Koordination auf regionaler und nationaler Ebene notwendig.
Klöckner erklärte, man werde auch schauen, welche Insektenpopulationen rückläufig sein sollen. Die Land- und Forstwirtschaft sei auf Ökosystemleistungen der Insekten angewiesen. Die Ursachen des Insektenrückgangs sei vielfältig und komplex. Sie beträfen aber bei weitem nicht nur die Landwirtschaft, betonte die CDU-Politikerin. Sie stellte klar, dass es ebenso um die Siedlungsentwicklung, um Lichtverschmutzung in den Städten, die Versiegelung von Flächen, zugepflasterte Gärten vor Haustüren sowie den Verkehr und die Verkehrsinfrastruktur gehe. „Da müssen wir alle ran”, hob die Ministerin hervor.
Erstaunt über Rückgang im Wald
Erstaunt zeigte sich Klöckner über den Insektenrückgang im Wald, zumal die ökologischen Daten für die Biodiversität in den deutschen Wäldern von Inventur zu Inventur besser geworden seien. Die Grünen-Sprecherin für Naturschutzpolitik, Steffi Lemke, bezeichnete die Forschungsergebnisse als „dramatisch”. Sie forderte die Bundesregierung auf, eine Trendwende im Artenschutz einzuleiten.
Der IVA wies darauf hin, dass es auch in intensiv genutzten Agrarlandschaften geeignete Maßnahmen gebe, um die Biodiversität zu erhöhen. Das zeigten Feldstudien.
Fragen zum Insektenschutz widmen sich Mitgliedsunternehmen dem Verband zufolge bereits seit mehr als zehn Jahren auf Demonstrationsbetrieben und Versuchsstandorten. Zur Erhöhung der Biodiversität brauche es angepasste Nahrungs- und Nisthabitate, Lerchenfenster oder auf Teilflächen einen größeren Abstand bei Saatreihen im Getreide. Vor allem aber müssten die Maßnahmen intelligent geplant und durchgeführt werden, um die besten Ergebnisse zu erzielen, betonte der IVA.
Aus Sicht der Abteilungsleiterin Biodiversität beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Silvia Bender, reicht das von der Bundesregierung vorgelegte Aktionsprogramm Insektenschutz nicht aus, um eine Trendumkehr beim Insektenschutz einzuleiten und „die weitere Ausrottung zu verhindern”.
DBV: Landwirtschaft muss Teil der Lösung sein
Laut DBV-Präsident Joachim Rukwied zeigt die Studie, dass die Landwirtschaft Teil der Lösung sein müsse. „Kaum eine Branche ist so essenziell auf die Bestäubungsleistung von Bienen und Insekten angewiesen wie wir”, unterstrich Rukwied. Die Landwirte setzten dabei auf kooperativen Naturschutz. Der DBV-Präsident erinnerte an die freiwillig vom Berufsstand bundesweit angelegten Blühstreifen auf einer Länge von insgesamt mehr als 230000 km als Lebensraum für Insekten. Dieses fünf Meter breite Band reiche fast sechsmal um die Erde. Zudem engagierten sich die Landwirte in verschiedenen Naturschutzprojekten.
Der Vorsitzende des Umweltausschusses im Bayerischen Bauernverband (BBV), Stefan Köhler, forderte, beim Thema Insektenschutz die konkreten Ursachen zu erforschen. Einseitige und wissenschaftlich nicht begründete Schuldzuweisungen an die Landwirtschaft seien hingegen „der falsche Weg”. Er hob ebenfalls hervor, dass die Landwirte ihre Verantwortung für den Erhalt der Artenvielfalt und den Umweltschutz im täglichen Handeln sehr ernst nähmen. Umweltverschmutzung, Klimawandel und Flächenverbrauch seien Faktoren, die aus Sicht der Landwirte direkt mit der Artenvielfalt zu tun hätten und mit einbezogen werden müssten, erklärte Köhler.