Wegen des Ukraine-Krieges und seiner Auswirkungen auf die Agrarmärkte und die Lebensmittelversorgung wird die Europäische Kommission ihre Nachhaltigkeitsstrategien einer erneuten Prüfung unterziehen. Das hat EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski angekündigt.
Man müsse jetzt dafür sorgen, dass die Agrarproduktion in Europa gesichert werde, erklärte der EU-Agrarkommissar gegenüber den Landwirtschaftsministern der Mitgliedstaaten.
Man müsse jetzt dafür sorgen, dass die Agrarproduktion in Europa gesichert werde, erklärte der Pole am 2. März im Anschluss an den informellen Agrarrat. Die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategien würden im Kontext der Lebensmittelversorgung und der neuen Situation in den nächsten Wochen geprüft.
In diesem Zusammenhang verwies Wojciechowski auf Flächenstilllegungen und die Möglichkeit, auf den Brachen Proteinpflanzen anzubauen. Ein Kurswechsel deutet sich auch in Sachen Privater Lagerhaltung (PLH) von Schweinefleisch an. Auch diese Maßnahme wollte der EU-Agrarkommissar nicht mehr ausschließen, genauso wie einen Einsatz der Krisenreserve. Zur Unterstützung der durch den Anstieg der Betriebsmittelkosten besonders in Mitleidenschaft gezogenen Sektoren sollen Eingriffe im Rahmen der Gemeinsamen Marktorganisation (GMO) in Betracht gezogen werden.
Nach Einschätzung der EU-Kommission wird Russlands Angriff auf die Ukraine ernste Auswirkungen auf den Handel mit Agrarprodukten und Lebensmitteln haben. Bislang sind laut Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir aber keine Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit in der Europäischen Union zu spüren.
„Die Versorgung innerhalb der EU ist nicht gefährdet. Trotzdem halten wir die Auswirkungen auf die Agrarmärkte genau im Blick”, erklärte Özdemir. Weltweit sei nicht zuletzt wegen der stark gestiegenen Energiekosten mit Preissteigerungen bei Agrarrohstoffen und Düngemitteln zu rechnen. In der Konsequenz könne nicht ausgeschlossen werden, dass das bei den Verbrauchern an der Supermarktkasse ankomme. Eine deutliche Absage erteilte der Grünen-Politiker indes Forderungen, Teile der neuen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) auszusetzen, um das Produktionsniveau in der EU zu erhöhen. Um das Recht auf Nahrung nachhaltig weltweit zu sichern, müssten die ökologischen Krisen entschieden bekämpft werden, betonte der Minister.
Versorgungsketten unterbrochen
Özdemirs irischer Amtskollege Charlie McConalogue begrüßte
die starke Solidarität der EU mit der Ukraine. Zugleich betonte er, dass
die Reaktion der Gemeinschaft die Ernährungssicherheit nicht gefährden
dürfe. Die mittelbaren Maßnahmen sollten sich nach Auffassung
McConalogues darauf konzentrieren, die Versorgungsketten
aufrechtzuerhalten und Störungen zu minimieren.
Litauens Agrarminister Kestutis Navickas rief dazu auf, sich auf
Möglichkeiten zur Unterstützung der Ukraine zu konzentrieren. Er
berichtete von einem Gespräch mit dem ukrainischen
Landwirtschaftsminister Roman Leshchenko, der nach eigenen Angaben
gejagt wird und regelmäßig den Standort wechseln muss. Es gebe
grundsätzlich keinen Mangel an Rohstoffen für die
Lebensmittelherstellung, aber die Versorgungsketten seien unterbrochen
und die verbliebenen Fabriken könnten nicht ausreichend produzieren.
Navickas sprach sich daher da-für aus, Nahrungsmittellieferungen in die
Kriegsregion zu
organisieren.
Bei ihrem jüngsten Austausch drängten mehrere Minister auf eine
langfristige Strategie zur Absicherung der europäischen
Ernährungssouveränität und eine entsprechende Ausrichtung der GAP. Einig
waren sich die Minister darin, dass bei der Bewältigung der zu
erwartenden Verwerfungen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft alle
relevanten internationalen Netzwerke eingebunden werden sollten; genannt
wurden unter anderem die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation
der Vereinten Nationen (FAO) und ihr Agrarmarktinformationssystem
(AMIS), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) sowie die G7 und die G20.
Gewässer vermint
Im Handel mit der Ukraine sind Störungen nach
Einschätzung des stellvertretenden Chefs der Generaldirektion
Landwirtschaft der EU-Kommission, Michael Scannell, bei tierischen
Produkten zu erwarten. Im Handel mit Getreide und Ölsaaten rechnet er
mit schweren Erschütterungen. Laut Scannell haben die Ukraine und
Russland am weltweiten Handelsvolumen von Weizen einen Anteil von 30 Prozent; bei Gerste sind es 32 Prozent und bei Mais 17Prozent. Bei Sonnenblumenöl, -saaten und -schrot betrage der Anteil mehr als 50 Prozent.
Nach Angaben des Kommissionsvertreters ist der Handel über die
ukrainischen Schwarzmeerhäfen vollständig zum Erliegen gekommen. Die
ukrainische Marine habe die umliegenden Gewässer vermint, schon aus
diesem Grund sei auf absehbare Zeit nicht mit einer Wiederaufnahme des
Schiffsverkehrs zu rechnen.
Niemand rechne mit einer kurzfristigen Erholung der Handelsaktivitäten.
Die Kommission geht zudem davon aus, dass der Krieg auch die anstehende
Frühjahrsaussaat und als Folge mindestens die anschließende Ernte
beeinträchtigen wird.
Der Green Deal-Chef sieht es anders
Der geschäftsführende Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, hat davor gewarnt, wegen des Ukraine-Krieges die im Green Deal geplanten Maßnahmen zu stoppen. Nach Ansicht des Niederländers, der hauptverantwortlicher Kommissar für den Green Deal ist, wäre es ein „historischer Fehler”, wenn die Europäische Union ihre Nachhaltigkeitsvorhaben nun verlangsamen oder sogar ganz begraben würde. Die einzig richtige Antwort sei eine autarke Energieproduktion, erklärte Timmermanns am Montag bei einer Anhörung im Umweltausschuss des EU-Parlaments in Straßburg.
Angesichts der Abhängigkeit von fossilen russischen Energieträgern sei es sogar notwendig, die durch den Green Deal angestoßenen Prozesse noch schneller voranzutreiben, betonte der Sozialdemokrat. Hinsichtlich der Landwirtschaft warnte der Klimakommissar vor der „Illusion”, dass man dem Sektor dadurch helfen könne, die Produktion durch die Aufgabe der Farm-to-Fork-Strategie weniger nachhaltig zu gestalten. Vielmehr zeige die aktuelle Krise, dass man die Abhängigkeit des Agrarsektors von mineralischen Düngemitteln verringern müsse. Die Farm-to-Fork-Strategie sei hier „ein Teil der Antwort und nicht des Problems”.