Tierhaltung | 21. September 2017

Zwischen Seniorenresidenz und Weide

Von Ulrike Amler
Erfreulich für Pferde und ihre Besitzer: Sie werden immer häufiger sehr alt. Und das oft bei guter Gesundheit. Dennoch unterscheiden sich die Bedürfnisse der vierbeinigen Senioren von denen junger Pferde und solcher im besten Sportalter.
Der Alterungsprozess von Pferden ist wesentlich von der genetischen Veranlagung abhängig. Dennoch spielt die Langlebigkeit in der Pferdezucht nur eine untergeordnete Rolle. Kaltblüter, Friesen oder Quarterhorses erreichen nur selten das Alter von Vollblütern. Kleinpferde und Ponys werden nicht selten bei guter Gesundheit fast vierzig Jahre alt.
Frühzeitige Abgangsursachen sind vielfach auf haltungs- und nutzungsbedingte Einflüsse zurückzuführen: Lahmheiten durch Unfall oder Verschleiß, Koliken aufgrund von Stress, mangelhafter Futterqualität und Fehlern im Fütterungsmanagement, chronische Lungenprobleme.
Immer häufiger bringen Gnadenbrotpferde Stoffwechselerkrankungen wie Equines Metabolisches Syndrom (EMS) und Equines Cushing Syndrom (ECS) mit Hufrehe in einem weit fortgeschrittenen Stadium mit. Sie gelten als Wohlstandserkrankungen – verursacht durch zu nahrhaftes Futter und zu wenig art- und verhaltensgerechte Bewegungsmöglichkeiten. Auf diese Hypotheken der Pferdegesundheit muss der Gnadenbrotbetrieb sich mit einem angemessenen Angebot einstellen.
Wann geht’s in Rente?
Trotz körperlichem Verfall können alte Pferde sich bei guter Haltung noch lange wohlfühlen.
Durch Verschleiß, Unfälle oder Krankheit können Pferde bereits in jungen Jahren zum nicht mehr nutzbaren Rentner werden. Neben der Genetik spielen äußere Einflüsse wie gute Aufzucht- und Haltungsbedingungen sowie eine bedarfs- und artgerechte Fütterung eine wesentliche Rolle für das Renteneintrittsalter und das Tempo des Alterungsprozesses. Das alte Sprichwort „Ein Jahr länger Fohlen, zehn Jahre länger Pferd” beschreibt darüber hinaus die Bedeutung eines schonenden und auf den wachsenden Pferdekörper abgstimmten Ausbildungsbeginns und einer Reitweise, die frühzeitigem Verschleiß vorbeugt.
Der sichtbare Alterungsprozess, nachlassende Leistungsfähigkeit als Reitpferd, Verletzungen oder Verschleiß veranlassen Pferdehalter zum Umzug ihrer Tiere in extensivere und artgerechte Haltungsformen, insbesondere wenn die Tiere in der aktiven Zeit in Boxen und Paddockboxen gehalten wurden. Gnadenbrotbetriebe verfügen meist über eine großzügige Flächenausstattung und liegen abseits von Ballungszentren und Kundennähe. Die Haltererwartung, dass die Unterbringungskosten für einen Senior günstiger als für das aktive Reitpferd sein sollten und möglicherweise die Anschaffung eines Nachfolgers ermöglichen, erfüllt sich bei genauer Betrachtung jedoch nur selten, ohne auf Kosten der Pferde zu gehen.
Für die Kalkulation des Stallbetreibers stehen bei der Haltung von alten Pferden andere Parameter im Vordergrund als bei der Haltung von aktiven Sport- und Freizeitpferden. Die Ansprüche der Einsteller an die reiterliche Infrastruktur wie Halle, Außenplatz oder Longierzirkel nehmen ab. Mit zunehmendem Alter und altersbedingten Zipperlein oder den Spätfolgen von Verletzungen und Verschleiß aus einer aktiven Sportkarriere bekommen Pflege- und Betreuungsarbeiten oder eine individuelle Fütterung einen neuen Stellenwert.
Alte Pferde bedeuten Mehraufwand
Kosten werden hier durch einen Mehrbedarf an Arbeitszeit mit dem Pferd und in der intensiven Tierbeobachtung generiert. Die Erwartung, dass ein sogenanntes Gnadenbrotpferd annähernd zum Selbstkostenpreis bei bedarfsgerechter Versorgung auf einer Koppel gehalten werden kann, ist unrealistisch. Auf alte Pferde spezialisierte Pensionsbetriebe verfügen idealerweise über große Weideflächen mit Unterständen, in denen Pferde im Trockenen bequem liegen und leicht aufstehen können.
Im höherpreisigen Segment steht ein Offenstall mit großzügigem Bewegungsangebot auf Allwetterpaddocks und Weidegang zur Verfügung. In Bewegungsställen bleiben aktive Pferde idealerweise auch nach der „Pensionierung” in der gewohnten Herde. Ältere Pferde kommen mit automatischen Fütterungssystemen gut zurecht. Die Gewöhnung an solche Systeme fällt aber auch Pferden umso leichter, je jünger und unbeschwerter sie sich noch innerhalb der Herde bewegen können.
Die Akzeptanz von Fressständen und Fütterungsautomaten ist wesentlich von der Fähigkeit abhängig, sich in der Herde souverän und angstfrei zu bewegen. Wirken ältere Pferde tüddelig, starrsinnig und unflexibel, ist das meist auf ein Nachlassen der Hör- und Sehfähigkeit und entsprechende Unsicherheit zurückzuführen. Diesen Pferden geben feste Strukturen im Raum und in der Zeit Sicherheit.
Einzeltierbetreuung
Halter von Gnadenbrotpferden leben oftmals nicht in Pferdenähe und geben die Rundumversorgung an den Stallbetreiber ab. Dieser muss für regelmäßige und aufwendige Pflege- und Betreuungstätigkeiten ausreichend Arbeitszeit kalkulieren. Alte Pferde sind meist ruhiger, wenngleich mancher Wallach bis ins hohe Alter spielt.
Dennoch sind die Tierbeobachtung und das Herdenmanagement zentraler Bestandteil der Tierbetreuung. Dies ist umso wichtiger, wenn die Herde altersgemischt ist und junge Tiere den älteren durch Rüpeleien oder Spielaufforderungen ständig zusetzen. Hinzu kommt möglicherweise täglich eine Behandlung des Einzeltieres durch Medikamentengabe, Ekzempflege, Hufkontrolle und Reinigung sowie Einzelfütterung zur ausreichenden Energieaufnahme bei Fressproblemen oder für Zusatzfuttermittel.
Wichtige Indizien für den Zustand und Alterungsprozess des Pferdes sind neben Veränderungen der Fellqualität und dem Ergrauen der Ernährungszustand und das Fressverhalten. Eine wenigstens jährliche Zahnkontrolle gibt Aufschluss über den Abrieb der Kauflächen und die Fähigkeit, Heu zu kauen und zu verwerten. Wackelzähne müssen gezogen und die Stellung der verbleibenden Zähne kontrolliert werden.
Fütterung anpassen
Ältere Pferde haben mit zunehmenden altersbedingten Resorptionsproblemen einen erhöhten Energiebedarf, der aus Gründen der Verdauungsphysiologie nicht einfach durch zusätzliches Kraftfutter kompensiert werden darf. Auch Herz-Kreislauf-Probleme wirken sich negativ auf die Verdauung aus. Hochwertiges Heu und bei Zahnproblemen zusätzlich, möglicherweise sogar mehrmals täglich, eingeweichte Grascobs müssen die Versorgungslücken ausgleichen. Problemtiere sollen das Futter in Ruhe und unbehelligt von futterneidischen Artgenossen aufnehmen können. Pferde mit Zahnproblemen und hastige Fresser neigen zu Schlundverstopfung.
Durch die individuelle Tierbeobachtung müssen Schmerzzustände aufgedeckt und in Zusammenarbeit mit dem Tierarzt behandelt werden. Unbehandelt sind sie tierschutzrelevant. Sie können bei alten Pferden im Bereich des Bewegungsapparates und der Verdauung chronisch, aber auch schubweise auftreten. Hierfür muss das Pferd aus der Herde genommen und möglicherweise täglich einzeln behandelt werden.
Es ist ratsam, die Tiere bei großzügiger Weidehaltung darauf zu konditionieren, zu den Kontrollbesuchen freiwillig zum Betreuer zu kommen. Dabei werden auch Veränderungen der Bewegungsfähigkeit des einzelnen Tieres im Tagesvergleich offensichtlich. Zur Erhaltung des Bewegungsapparates sollten auch ältere Pferde auf Weiden und in Ausläufen reichlich Bewegungsanreize in gemäßigtem Tempo erhalten.
Herdenmanagement
Pferdesenioren brauchen auch bei extensiver Haltung regelmäßige Hufpflege und bei schlechter Hufqualität oft bis ins hohe Alter einen angemessenen Hufschutz. Die Arbeiten von Hufschmieden oder -pflegern werden dabei seltener vom Besitzer selbst begleitet, sondern müssen vom Stallbetreiber oder Schmied geleistet werden. Dies muss bei der Kostengestaltung kalkuliert oder als Sonderleistung in Rechnung gestellt werden.
Während viele Pferdehalter in der aktiven Zeit des Tieres wenig moralische Bedenken bei der Boxenhaltung haben, soll der Senior fast immer seinen Lebensabend in einer Herde genießen. Der Stallbetreiber steht häufig vor der Herausforderung, Pferde mit mangelhafter Sozialkompetenz in eine Herde einzugliedern. Dies muss sehr behutsam und am besten in Kleingruppen sympathisierender Integrationstiere erfolgen.
Es gibt aber immer einzelne Tiere, die diesen Schritt nicht schaffen. Bei anhaltendem Aggressionsverhalten durch Unsicherheit und Dauerstress muss der Integrationsversuch zum Schutz des Tieres und der gesamten Herde abgebrochen werden. Manche Pferde genießen den täglichen Weidegang ebenso wie die nächtliche Ruhe in einer Einzelbox, wo sie sich auch ihrer individuellen Ergänzungsration widmen können. Für den Stallbetreiber ist dies ein arbeitswirtschaftlicher Mehraufwand, der angemessen entlohnt werden muss.
Zustand richtig beurteilen
Viele alte Pferde ergrauen zunehmend im Gesicht.
Äußerlich sichtbare Alterungsprozesse münden früher oder später in körperlichen Verfall. Von der grauen Stirn bis zum weißen Kopf, in „durchtrittigen” Gelenken, atrophierter Muskulatur und zunehmender Abmagerung ist das Alter abzulesen. Während Großpferde diesen markanten körperlichen Zustand nicht selten zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr erreichen, ist er bei Ponys um das 35. Lebensjahr erreicht.
Das Aussehen allein gibt jedoch keinen Aufschluss über das Wohlbefinden der alten Tiere. Dennoch ist ihre Außenwirkung bei besorgten Nachbarn und Passanten gelegentlich erklärungsbedürftig. Dies sollte jedoch kein Grund sein, alte Tiere wegzusperren. 
Stallhalter und Betreuer sind gefragt, durch sachkundige und kritische Tierbeobachtung den Zustand und die Lebensqualität der Tiere einzuschätzen. Spätestens wenn die Herde alte, gebrechliche Tiere ausgrenzt, am Futter ohne aktive Gegenwehr verdrängt und die Tiere sich selbst in Randbereiche der Herde oder der Weide zurückziehen, muss das Gespräch mit dem Tierbesitzer im Hinblick auf die rechtzeitige Euthanasie gesucht werden. Dies ist in der Pensionspferdehaltung von Senioren sicher das schwierigste Kundengespräch, das viel Fingerspitzengefühl erfordert.
große Verantwortung
Umso wichtiger ist es, das Thema bereits bei der Aufnahme des vierbeinigen Pensionärs und später regelmäßig anzusprechen. Für den Stallbetreiber ist es hier besonders wichtig, seine Position und persönlichen „roten Linien” zu kommunizieren. Haben die Tierbesitzer in den letzten Lebensjahren nur noch spärlich Kontakt zu ihren Tieren, liegt beim Betreuer die Verantwortung für die richtige Einschätzung des Gesundheitszustandes. Vielen Besitzern fehlt der Mut, die letzte Entscheidung zu einem Zeitpunkt zu treffen, der dem Tier Leid erspart. Hier ist das psychologische und kommunikative Geschick des Betriebsleiters gefordert.
Die Haltung von Gnadenbrotpferden ist für Betriebe interessant, die abseits der Ballungsräume über eine gute Flächenausstattung verfügen. Sie eignet sich zur Nutzung von Altgebäuden mit ausreichend Grünland um den Hof. Dennoch ist sie im Hinblick auf die große Verantwortung für Tiere in einer sensiblen Lebensphase anspruchsvoll und erfordert Sachkunde
Vertrauensverhältnis ist wichtig
Die Pferdebesitzer besuchen den Betrieb häufig nicht regelmäßig, sodass die Betreuungskomponente des Besitzers für den Stallbetreiber entfällt. Allerdings braucht der Stallbetreiber bei besonders sensiblen Themen wie der Vermittlung wichtiger tierärztlicher Behandlungen, der Intensivierung der Einzeltierversorgung und einer damit verbundenen Steigerung des Pensionspreises oder dem Thema Euthanasie besonderes Fingerspitzengefühl. Insofern sind ein vertrauenerweckendes Auftreten und die zuverlässige Erbringung der vereinbarten Leistungen die wesentliche Basis für den Geschäftserfolg. Denn nicht zuletzt die oftmals weite räumliche Entfernung lässt beim Kunden Misstrauen zurück.
Nicht selten laufen alte Pferde auf einzelnen Low-Budget-Betrieben wieder im Reitbetrieb, werden sich selbst überlassen oder sind längst weiterverkauft, geschlachtet oder euthanasiert, während der Kunde im guten Glauben über Monate und Jahre regelmäßig die Pension überweist. Im Zeitalter sozialer Medien beeinflussen solche Kundenerfahrungen die öffentliche Meinung über ganze Betriebszweige und Dienstleistungsangebote. Umso wichtiger sind die angemessene Kalkulation der für das Tierwohl notwendigen Leistungen und ihre Entlohnung. Schließlich kosten auch Alten- und Pflegeheime für den Menschen mehr als ein Stellplatz auf dem Zeltplatz.