Land und Leute | 18. September 2014

60 Jahre Hilfe für Familien

Von Gisela Ehret
Mit einer großen Geburtstagsfeier würdigte das Dorfhelferinnenwerk Sölden (DHW) jüngst in Merzhausen sein 60-jähriges Bestehen. Neben einem Gottesdienst und viel Zeit für Begegnung war eine Zeitreise durch die vergangenen 60 Jahre das Herzstück der Veranstaltung.
Statt Grußworten (links): Beim „Dorfhelferinnen-Klick” galt es, Tätigkeiten aus dem Alltag der Frauen zu erraten. Von links: BLHV-Präsident Werner Räpple, Weihbischof Bernd Uhl, CDU-Abgeordneter Patrick Rapp und Ministerialrätin Edelgard Fieß-Heitzmann.
Elisabeth Schwander war es, die 1954 den ersten Ausbildungskurs zur Dorfhelferin ins Leben rief. Ihre Grundidee: Menschen, die mit den Bauernfamilien in den Dörfern leben und ihnen helfen. Dabei verfolgte sie drei Ziele: Erstens, die Bäuerinnen in schwierigen Lagen zu unterstützen, zweitens, Frauen eine gute Berufsausbildung zu ermöglichen, und drittens, über die Dorfhelferinnen Wissen in die Dörfer zu tragen. Für diese Ziele waren jedoch keine Mittel vorhanden, und auch eine Ausbildungsstätte fehlte. Der erste Kurs fand in der Landwirtschaftsschule Löffingen mit nur zehn Bäuerinnen statt. Um mehr Frauen für den Beruf zu begeistern, fuhr Schwander übers Land und klapperte die Höfe ab. Aber es war nicht einfach, Schülerinnen zu gewinnen: Die Eltern wollten ihre Töchter nicht hergeben. Eine Ausbildung wurde als Verschwendung angesehen – die Tochter wurde auf dem Hof als Arbeitskraft gebraucht und würde ja sowieso heiraten – so die vorherrschende Meinung.
Zeitzeugin Gertrud Himmelsbach war eine der wenigen, die damals Dorfhelferin wurden. Im Gespräch mit Moderatorin Sandra Klein-Gießler erinnert sie sich an die ersten Einsätze: Zum Beispiel sammelten die Frauen auf dem Schauinsland Brennholz für arme Leute. Die französische Besatzungsmacht hatte nur die großen Stämme mitgenommen und den Rest übrig gelassen. „Wir haben gelernt, die Dinge anzupacken und zu unserer Überzeugung zu stehen”, sagt sie heute. Als Schulstandort stellte die Erzdiözese Freiburg schließlich das frühere Priorat Sölden zur Verfügung. Bis heute hat das DHW dort seinen Sitz.
Die ehemalige Schulsekretärin Ursula Günter (li.) und die frühere Dorfhelferin Gertrud Himmelsbach (re.) schwelgen mit Moderatorin Sandra Klein-Gießler in Erinnerungen.


Pflicht: Vorstellung beim Bürgermeister
Auch Lioba Merkle stammt aus dieser frühen Zeit: Sie beendete ihre Ausbildung 1962 und war anschließend lang als Dorfhelferin und Einsatzleiterin tätig. „Frau Schwander hatte hohe Ideale mit uns”, sagt sie. Sie legte den Frauen die ehrenamtliche Arbeit ans Herz, allein schon, um schnell bekannt zu werden im Dorf. Das Vorstellen beim Bürgermeister zu Beginn der Arbeit war Pflicht. Die Dorfhelferin war eine  geachtete Persönlichkeit und wurde auch zu Konfliktsituationen in Familien als Schlichterin gerufen. „Man hat uns viel zugemutet, aber es zeigt auch, wie viel Vertrauen man in uns steckte”, erinnert sie sich. 1966 wurde über die ersten landwirtschaftlichen Sozialgesetze auch eine Finanzierungsgrundlage für die Arbeit der  Dorfhelferinnen geschaffen. Im Jahr 1974 wurde dann der Kreis der Familien, die eine Dorfhelferin in Anspruch nehmen können, durch das „Leistungsverbesserungsgesetz” der gesetzlichen Krankenkassen erheblich erweitert. Auch mit den neu gegründeten Sozialstationen kooperierte das DHW. Bis 1988 gab es einen fast kontinuierlichen Anstieg der Einsatztage auf 42586. Noch sind es fast ausschließlich Ganztageseinätze. Ende 1989 waren 234 Dorfhelferinnen beschäftigt – davon 211 in Vollzeit und nur 23 in Teilzeit. Es gab 105 Stationsgebiete. 1996 fielen die Einsätze in der Landwirtschaft auf 16 Prozent zurück. Gleichzeitig stieg die Nachfrage von Familien außerhalb der Landwirtschaft. Es war eine Zeit des Umbruchs und der fehlenden Gelder: 2001 musste die Dorfhelferinnenschule schließen.
Per Klick konnte das Publikum sich an einem Quiz beteiligen.

Schmerzhafte Erinnerung
Der damalige Vorsitzende des DHW, Werner Kohler, und die damalige Leiterin, Lucia Lang, erinnern sich schmerzhaft an diese Zeit. „Es war eine enorme Herausforderung  und erforderte intensive Arbeit, um transparent zu machen, dass die Arbeit des DHW auch ohne die Schule weiterläuft”, so Kohler. Lucia Lang erinnert sich, dass damals die „tapferen Frauen auf den Stationen” ihr sehr geholfen hätten. „Und immer wieder die Resonanz aus den Familien”, dass die Arbeit sinnvoll und wichtig ist. In der Krise wurden auch wichtige Grundsteine gelegt, zum Beispiel in der landes- und bundesweiten Zusammenarbeit der Dorfhelferinnen. Ab 2002 waren überall regionale Einsatzleiterinnen als hauptberuflich beschäftigte Mitarbeiterinnen eingestellt.
Doch die Finanzlage blieb angespannt: 2005 mussten die Mitarbeiter auf einen Teil ihres Weihnachtsgelds verzichten. Das Erzbischöfliche Ordinariat sprang zur Seite und unterstützt das DHW dauerhaft mit einem Zuschuss. Im Jahr 2013 hatte das DHW erstmals seit zwölf Jahren wieder mehr als 250000 Einsatzstunden. Die regionalen Einsatzleiterinnen berichteten bei der Veranstaltung von einigen Einsätzen: Da war zum Beispiel der Bauernhof mit 80 Kühen und 1000 Hühnern und die Bäuerin erkrankt. Oder die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, deren ältestes Kind an Leukämie litt. Oder die Familie mit drei Kindern; der Vater war den ganzen Tag außer Haus, die Mutter bekam zusätzlich Drillinge.
Vier verschiedene Einsatzfelder
Die Leiterin des DHW, Elisabeth Groß, teilt die derzeitigen Einsätze in vier Felder: Die landwirtschaftlichen Einsätze als Ursprung der Dorfhelferinnenarbeit machen zehn Prozent der Einsätze aus. Die Leistungen im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen bilden den Hauptteil der Einsätze. Einsätze im Auftrag der Jugendhilfe wurden in den letzten Jahren von null auf zehn Prozent stark ausgebaut. Hinzu kommen die frühen Hilfen bei Kindern bis zum dritten Lebensjahr. „Hier gibt es noch viel Entwicklungspotenzial”, so Groß.
Veränderte Einsatzrealität
Wie die Leiterin berichtet, hat sich die Einsatzrealität der Dorfhelferinnen stark verändert: Die Arbeitszeiten sind geschrumpft, es gibt mehr geteilte Einsätze, die Fahrtwege werden länger. „Aber das Festhalten an solide ausgebildeten Fachkräften hat sich als richtig erwiesen.” Groß zufolge identifizieren sich die Dorfhelferinnen in hohem Maße mit ihrer Arbeit. „Sie haben das Talent, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und sie, durch das Chaos hindurch, in ihrer Würde zu sehen”, lobte sie. Stellvertretend für alle Mitarbeiterinnen wurden vier Frauen geehrt: Monika Stecher-Bartschen, Olga Kogler-Zink, Gabriele Pfrenge-Zimmermann und Sina Dickschat als jüngste Mitarbeiterin. Auch ein Quiz, an dem das Publikum per Knopfdruck teilnehmen konnte, gehörte zum Programm. Eine der Fragen lautete: „Ab welchem Jahr durften Frauen ohne Zustimmung ihres Ehemanns einen Arbeitsvertrag unterschreiben?” Die Antwort lässt mehr als aufhorchen: 1977. 
Die Leiterin des DHW, Elisabeth Groß, ehrte stellvertretend vier Mitarbeiterinnen: Monika Stecher-Bartschen, Olga Kogler-Zink, Gabriele Pfrenge-Zimmermann und Sina Dickschat als jüngste Mitarbeiterin (v.l.).